Zuerst höre ich ein fernes Kreischen. Es kommt näher, schwillt an – und dann sehe ich sie: Ein riesiger Schwarm Nonnengänse fliegt lärmend und schnatternd über mich hinweg, der hellblaue Himmel ist schwarz gesprenkelt.
So spektakulär habe ich mir meine Begegnung mit der Natur von Krautsand – einer Insel in der Elbe vierzig Kilometer nord-westlich von Hamburg – nicht vorgestellt. Noch Minuten später schaue ich in den leeren Himmel. Entspannung und Stille hatte ich von meinem Ausflug ins Naturschutzgebiet erwartet – und stehe plötzlich in einer Szenerie wie aus Hitchcocks „Die Vögel“ entsprungen.
Ich klettere die Metalltreppe zu dem Holzhaus hinauf, das von Stelzen getragen wie ein UFO zwischen den Baumwipfeln steht. Der Schlüssel steckt. Endlich da! Ich setze mich auf die Bank neben der Tür, müde, aber auch ruhig, irgendwie angekommen. Bald sinke ich in die Koje und als der Specht sein gleichförmiges Hämmern beendet, schlafe ich ein.
Gleichförmig gestaltet sich auch der nächste Tag. Ich folge den Wegen durch das Naturschutzgebiet, fahre entlang nicht enden wollender Deiche, die mich von der Elbe trennen. Struppiges, gelb-grünes Gras so weit das Auge reicht. Diese Mischung aus Ereignislosigkeit und Monotonie hat etwas Beruhigendes.
Als sich auch der hier lebende Seeadler nicht blicken lässt, fasse ich einen Entschluss: Bevor ich zurückfahre, möchte ich noch einmal das Naturspektakel erleben, mit dem alles begann. Das Starten und Landen der Nonnengänse. Ihren Namen verdanken sie ihrer schwarz-weißen Musterung. In dem Mosaik aus Auen und Wattflächen rasten sie von Herbst bis Frühjahr, um dann weiter nach Norden zu ziehen.
Ich robbe über die staubigen Wege, lautlos, wie ich hoffe, und warte – stundenlang. Endlich passiert etwas – aber ausgerechnet da schaue ich kurz weg. Hobby-Ontologinnen und -Ontologen wissen, wovon ich spreche.
Aufstieg der Nonnengänse
Enttäuscht mache ich mich auf den Rückweg, da erspähe ich doch noch einen riesigen Schwarm, werfe mein Rad in den Graben und mich in den Staub. Vor mir eine Wiese, die dunkel schimmert. Sie ist mit Nonnengänsen übersät, die bewegungslos auf dem Boden sitzen. Auf einmal geht ein Ruck durch die Gänseschar und die erste Vogelreihe erhebt sich gen Himmel, dann die zweite und dann die dritte, wie eine fein abgestimmte Choreografie.
Als hätten alle nur auf das Signal gewartet, stößt die Schar wie ein riesiger Körper nach oben, rast auf mich zu und fliegt dann knapp über mich hinweg. Es schnattert und wummert ohrenbetäubend, doch nur wenige Sekunden später ist der Lärm vorbei. Nun zeugen nur noch die vorbeihuschenden Schatten der Nachzügler von dem Naturspektakel.
Auf dem Rückweg hallt das Getöse der Nonnengänse in mir nach. Mir kommt Goethes Gedichtzeile in den Sinn: „Willst du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah." Nun weiß ich, was er meinte.
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