Haben Insekten ein Bewusstsein? Diese robotherhaften, uns so fremden Wesen? Fragt man Lars Chittka, ist die Antwort ein klares Ja. Der Londoner Forscher beschäftigt sich seit Jahren mit den geistigen Fähigkeiten von Bienen, Hummeln und Co. Er sagt: Insekten haben Erinnerungen, fühlen Angst und spielen zuweilen sogar. Die Ergebnisse seiner Arbeitsgruppe erregen weltweit Aufsehen. Ein Laborbesuch
Bernsteinfarbene Minikrater wachsen auf weißer Katzenstreu. Dutzende pelzige, schwarzgelbweiße Leiber klettern hierhin, dorthin und übereinander: Erdhummeln, die ihr Nest in einer flachen Holzkiste bauen. Manche tragen runde Nummern auf dem Rücken. Eine Plexiglasscheibe mit drei abgedeckten Löchern trennt sie von der Außenwelt. „Und jetzt mache ich mal so…“, sagt Lars Chittka. Er öffnet vorsichtig eines der Löcher, beugt sich über das Nest und bläst sanft hinein. Sofort erhebt sich in der Kiste ein nervöses Brummen. Die Hummeln wuseln durcheinander, Bewegungen wie im Zeitraffer, Flügelhäute blitzen auf. Nicht der Wind hat sie aufgeregt. Es war das Kohlendioxid im Atem des Forschers. Für Hummeln ist es ein so deutliches Alarmsignal wie für uns das Schrillen einer Sirene.
Ort des Umdenkens
Chittka deckt das Loch schnell wieder zu. Er beobachtet die Hummeln hinter der Scheibe kurz, bevor er eine Pappe auf die Kiste legt. Die Tiere sollen sich wieder beruhigen, es ist ja nichts passiert. „Insekten reagieren auf Sachen, die wir nicht mal wahrnehmen“, sagt er. Kann man als Mensch da überhaupt beurteilen, wie sich ihre Welt gestaltet? Ob sie denken? Ob sie fühlen? Lars Chittka versucht es. In Bad Homburg geboren, forscht der heute Sechzigjährige seit 2005 als
Professor für Sinnes- und Verhaltensökologie an der Queen Mary University in London. Hummeln sind derzeit seine wichtigsten Studienobjekte. Die Ergebnisse, die er und seine Arbeitsgruppe produzieren, verändern den Blick auf Insekten grundlegend. Chittka und sein Team wiesen nach, dass Honigbienen und Hummeln zu weit mehr fähig sind als nur zu roboterhaften Lernprozessen, die man ihnen lange ausschließlich zuschrieb.
Dass sich die Tiere detailliert an die Umgebung ihres Stocks erinnern, war bereits bekannt, als er mit seiner Forschung begann. Dass sie auf der Suche nach Nektar den günstigsten Weg zwischen mehreren Zielen ermitteln, ist nur eine der zahlreichen Erkenntnisse, die er und sein Team hinzufügten. In einem Experiment stellten sie sogar fest, dass Hummeln in der Lage sind, Werkzeuge zu benutzen und deren Gebrauch voneinander abzuschauen: Die Tiere mussten an Wollfäden ziehen, um eine Belohnung zu erlangen. Wenn sie den Vorgang bei anderen Hummeln sahen, konnten sie das Problem ohne vorheriges Ausprobieren lösen.
Dabei war er selbst lange Zeit nicht davon überzeugt, dass Insekten mehr sind als gefühllose Roboter. In den Neunzigerjahren etwa erforschte Chittka als Doktorand die Farbwahrnehmung von Honigbienen. Einmal wandte er sich dabei an einen Botanikprofessor, weil er wissen wollte, wie groß die Variabilität von Schattierungen ist, in denen Pflanzen eine Blütenfarbe produzieren können. Empört wies dieser ihn zurück: Er werde mit Chittka kein einziges Wort wechseln, weil der in einem neurobiologischen Labor arbeite, wo lebende Honigbienen mit invasiven Methoden untersucht würden und dabei Schmerzen empfänden. Kopfschüttelnd verließ Chittka das Büro. Der Kerl spinnt, dachte er.
Jahrelang erforschte er danach weiter die Fähigkeiten von Insekten, hauptsächlich an Bienen und Hummeln: ihr Wahrnehmungsvermögen, ihr Gedächtnis, ob sie lernen, ob sie zählen können. Fähigkeiten, die eine verblüffende Intelligenz der Tiere bewiesen. Dann kam 2008. Und in diesem Jahr ein Versuch, der Chittkas Denken über Insekten in den Grundfesten erschüttern sollte.
Wieder einmal ging es um das Lernvermögen, diesmal von Erdhummeln. Gemeinsam mit einem Kollegen hatte Chittka einen Apparat gebaut, der Krabbenspinnen auf der Jagd simulieren sollte. Krabbenspinnen lauern auf Blüten und können ihre Farbe dem Untergrund anpassen. Eine weiße Krabbenspinne auf einer weißen Blume ist kaum zu sehen, auch nicht für Hummeln. Chittka und sein Kollege wollten herausfinden, ob eine Hummel, die einmal von einer getarnten Krabbenspinne gepackt worden war, beim Landeanflug auf die nächste, ihr noch unbekannte Blüte ebenfalls vorsichtig sein würde. Der Apparat packte dafür das nichtsahnende Beutetier und entließ es wieder in die Freiheit. Hummeln, mit denen so verfahren wurde, änderten ihr Verhalten und inspizierten neue Blüten im Anflug eingehender. „Sie wägten eine geringere Effizienz bei der Nahrungssuche (...) ab gegen einen höheren potenziellen Fitnessverlust durch Verletzungen oder Gefressenwerden“, steht nüchtern in der Studie. Was sie nicht wiedergibt, ist der Eindruck, den die manipulierten Hummeln bei Chittka hinterließen. Ihr Zögern, ihre Nervosität erschien ihm wie: Angst. „Oberflächlich sah das aus wie eine posttraumatische Belastungsstörung“, sagt er.
Chittka sitzt in seinem Büro, während er von dem Versuch erzählt. Über seinem Schreibtisch hängen Coverblätter von Fachmagazinen, die seine Arbeiten zum Titelbild erkoren haben. In der Wissenschaft ist jedes von ihnen so wertvoll wie eine kleine Auszeichnung. Von nebenan dringen Stimmen und Lachen herüber. Die Mitglieder seiner Arbeitsgruppe basteln an neuen Versuchsaufbauten für ihre Studien.
Eine von ihnen ist Samadi Galpayage. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit veröffentlichte sie Anfang 2023 eine Studie, die ein großes Medienecho erzeugte. „Darin ging es um die Frage, ob Hummeln es als belohnend empfinden, wenn sie eine Holzkugel vor sich her rollen“, erklärt die junge Forscherin, während sie ebenjene Holzmurmeln in einer flachen, gelben Kiste platziert, um den Versuch nachzustellen. Der Studie war ein Experiment vorausgegangen, in dem Hummeln darauf trainiert worden waren, gegen eine Belohnung Holzmurmeln zu rollen. „Als würde man einen Hund trainieren“, sagt Galpayage. Dabei zeigte sich, dass manche Hummeln auch ohne Belohnung Kugeln rollten, einfach so. Ein merkwürdiges Verhalten für eine Hummel – es bringt weder Nektar noch Pollen und ist sogar energieaufwendig. Forschende interpretieren Handlungen, die ohne unmittelbaren Sinn durchgeführt werden, als Spiel. Etwas, das Spaß macht. Können Hummeln Spaß haben?