Als junger Rekrut wurde Friedrich Hassenstein im ukrainisch-weißrussischen Grenzgebiet Zeuge von Kriegsverbrechen der Wehrmacht, 1944 geriet er nach kurzem Fronteinsatz in russische Gefangenschaft. Nach seiner Freilassung setzte er sich zeitlebens für den Frieden ein. 2019 erzählte der damals 93-Jährige seinem Sohn Wolfgang im Greenpeace Magazin 1.19 „Frieden!“ seine Geschichte. Aus gegebenem Anlass erscheint das Interview nun online.
Papa, du warst mit 18 Jahren an der Front, anschließend vier Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft und bist mehrmals nur knapp dem Tod entronnen. Heute bist du einer von gar nicht mehr so vielen Zeitzeugen, die vom Krieg berichten können und das auch freimütig tun. Deshalb möchte ich mit dir darüber sprechen, wie du überlebt hast – und was dir der Frieden bedeutet.
Ich hoffe, dass ich geistesgegenwärtig genug bin trotz meines Alters.
Daran habe ich keinen Zweifel. Allerdings erschien es mir schon immer etwas surreal, wenn du vom Krieg erzählt hast, eher romanhaft oder wie ein alter Schwarz-Weiß-Film.
Das wundert mich nicht, ich bin selber in eine gewisse heilsame Distanz dazu geraten. Wenn ich zum Beispiel meinen Bericht über die Gefangenschaft lese, den ich gleich nach der Rückkehr verfasst habe, dann habe ich das Gefühl, dass das ein anderer geschrieben hat. Du und deine Geschwister, ihr habt früher kaum nachgefragt und konntet nicht verstehen, dass euer Papa und der, der das alles erlebt hat, ein und derselbe Mensch ist. Als dein Bruder einmal das Foto von mir als jungem Rekruten in Uniform sah, sagte er: Papa, das bist du als Soldat verkleidet! Das traf es.
Ich erinnere mich an eine Situation in der fünften oder sechsten Klasse, da prahlte ein Mitschüler, sein Vater habe im Krieg neun Feinde getötet. Ich war schockiert und habe ihm entgegnet, meiner habe über die Köpfe der Gegner hinweggeschossen, und darauf sei ich stolz. War das wirklich so?
Na ja, das war nicht so bewusst, wie das jetzt klingt. Es stimmt, ich hatte eine Art Tötungshemmung, ich drückte mich einfach vor dem Schießen. Man muss aber dazu sagen, dass ich nur vier Monate an der Front war und kaum in einer Situation, in der ich gezielt hätte schießen können. Ich war zum Beispiel nie in einer Notwehrsituation „er oder ich“ und weiß nicht, was ich dann getan hätte.
Einmal stand dir aber ein russischer Soldat direkt gegenüber.
Ja, ein unvergesslicher Moment. Ich musste während des Rückzugs nachts in einer Art Dickicht allein Wache schieben. Plötzlich stand ein junger Rotarmist vor mir und wir schauten uns erschreckt ins Gesicht. Wir hatten beide ein schussbereites Gewehr in der Hand, aber anstatt uns in heroischem Eifer gegenseitig totzuschießen, haben wir uns instinktiv auf dem Hacken umgedreht und sind voreinander davongelaufen. So haben wir uns gegenseitig auf vernünftige Weise das Leben erhalten. Es mag sentimental klingen, aber es war fast ein Gefühl der Brüderlichkeit.
Für mich ist das die schönste Friedensgeschichte überhaupt.
Das freut mich. Man muss dazusagen: Wenn ich beobachtet worden wäre, hätte ich wegen Feigheit vor dem Feind vors Kriegsgericht kommen können. Und der junge Russe genauso.
Das Ideal des tapferen deutschen Soldaten lag dir fern. Hat dir das geholfen, im Krieg deine Menschlichkeit zu bewahren?
Ich will mich nicht über andere stellen, und wie gesagt, ich hatte auch Glück. Aber tatsächlich wollte ich kein Soldat sein und habe schon als Jugendlicher Krieg und Naziherrschaft abgelehnt.
Kannst du dir erklären, warum militaristische Erziehung und Nazipropaganda bei dir nicht verfangen haben?
Ich denke, da muss ich sehr früh beginnen. Ich erinnere mich, dass bereits Bilderbücher eine Kriegsangst in mir geweckt haben, historische Darstellungen zum Beispiel, etwa von der Zerstörung der Stadt Mailand durch Kaiser Barbarossa. Da sah ich brennende Häuser und flüchtende Bewohner, Tote und Verletzte, das wurde ganz unbefangen in einem vaterländischen Kinderbilderbuch gezeigt und hat mich damals verstört. Mit sieben oder acht Jahren habe ich dann begonnen, Zeitung zu lesen. So habe ich etwa das Jahr ’33 bewusst erlebt – einiges hat mir imponiert, anderes fand ich unheimlich. Ich habe also einerseits früh viele Kenntnisse gehabt, andererseits viel Fantasie und dadurch genährt auch eine starke Ängstlichkeit, die mein Leben geprägt hat. So habe ich schon als Kind eine Friedensgesinnung entwickelt – übrigens in dem Bewusstsein, dass ich damit in Opposition stehe zur überwiegenden Mehrheit meiner Zeitgenossen.
Das hast du in der Grundschule sogar öffentlich kundgetan.
Ja, im Jahr 1935, das war eine Art Schlüsselmoment. Hitler hatte gerade die allgemeine Wehrpflicht verkündet, und unser Klassenlehrer erklärte, wir Jungs sollten jetzt stolz und froh sein, dass wir alle Soldaten werden und das Vaterland beschützen und verteidigen dürften. Daraufhin habe ich mich gemeldet, bin aufgestanden und habe gesagt: „Ich kenne da einen Jungen, der sagt, er wäre lieber ein Mädchen, um nicht Soldat werden zu müssen.“
Und alle wussten, wer gemeint ist?
Ja, das war jedem sofort klar (lacht). Ich war natürlich erschrocken, als der Lehrer, ein erfolgreicher Jagdflieger aus dem Ersten Weltkrieg, wutschnaubend losschimpfte, was für ein Waschlappen ich sei, ein Volksverräter. Meine Mitschüler haben nur total betreten geschwiegen. Nachher habe ich mich furchtbar geschämt, aber andererseits hatte ich auch das Gefühl, dass ich mich in einer Weise geäußert habe, die für mich notwendig war.
Hat dich dabei dein Elternhaus irgendwie beinflusst?
Nein. Meine Eltern, also deine Großeltern, gehörten zum konservativen deutschnationalen Potsdamer Bürgertum. Die Nazis fand man zwar vulgär, aber meine Mutter war eine geradezu fanatische Verehrerin des kriegerischen Heldentums. Und mein Vater sagte nichts. Er hätte mich nicht bestärkt in irgendwelchen militärfreundlichen Gesinnungen, sagte aber auch nichts Gegenteiliges.
Wie hast du den Beginn des Krieges erlebt?
Ich war damals aufgrund einer Lungenerkrankung in einem Alpenkinderheim und habe dort miterlebt, wie eine ganze Generation den Kriegsbeginn spannend und schön fand. Anfangs habe ich ganz pragmatisch über die Kriegschancen nachgedacht und zum Beispiel die Einwohnerzahlen der beteiligten Länder verglichen. Den Polenfeldzug habe ich interessiert verfolgt und war dabei noch stark vom offiziellen Polen-Feindbild beeinflusst. Der weitere Kriegsverlauf weckte ganz unterschiedliche Gefühle in mir. Die Angriffe auf Dänemark und Norwegen und ein paar Wochen später auf Holland und Belgien machten mich wütend, besonders der Bombenangriff auf Rotterdam, denn diese Völker erschienen mir verwandt und waren mir sympathisch. Frankreich dagegen war für mich noch immer der Erbfeind, sodass ich vom Taumel nach dem schnellen Sieg weitgehend mitgerissen wurde. Man war doch sehr von seiner Zeit geprägt.
Dabei stand zunehmend die Frage im Raum, ob du noch selber Soldat werden musst.
Das wurde natürlich immer aktueller. Als dann die überraschende Meldung vom Überfall auf die Sowjetunion kam, habe ich sofort wieder meine Einwohnerzahlrechnung gemacht und konnte von da an nicht mehr an einen deutschen Sieg glauben. Ich kannte natürlich auch die Geschichte von Napoleons gescheitertem Russlandfeldzug. Die Angst, Soldat werden zu müssen, war nun viel größer als vorher, und ich habe das Kriegsende herbeigewünscht.
Konntest du darüber mit jemandem offen sprechen?
Ich hatte damals einen sehr guten Freund, der wie ich die Naziherrschaft immer klarer ablehnte. Wir waren beide der Ansicht, dass der Krieg ein Wahnsinn ist und fanden es falsch, dass dieser verrückte Hitler das Leben von uns Jungen verheizt.
Da sind bereits die ersten Klassenkameraden verschwunden.
Mein zweitbester Freund etwa hatte sich als Reserveoffizier freiwillig gemeldet. Eines Tages fand ich in der Zeitung seine Todesanzeige unter ganz vielen anderen Namen und dem Eisernen Kreuz als Zeichen, dass er gefallen ist. Das erschütterte mich natürlich, aber gleichzeitig dachte ich: Warum hat er sich auch so früh gemeldet? Auch mein bester Freund ist nicht aus dem Krieg heimgekehrt. Ich hatte das Glück, dass ich im Frühjahr 1943, also mit 17, noch ein reguläres Abitur machen konnte. Danach verabschiedeten wir Klassenkameraden uns mit zynischen Sprüchen wie: „Auf Wiedersehen im Massengrab.“ Dann kam die Einberufung in die Wehrmacht.
Es dauerte nicht lange, da wurde deine kriegsskeptische Haltung auf schreckliche Weise bestätigt.
Nach wenigen Tagen wurden wir in ein Ausbildungslager in den Pripjatsümpfen gebracht, im heutigen Grenzgebiet von Weißrussland und der Ukraine. Drei Erlebnisse aus dieser ersten Rekrutenzeit haben sehr schnell meine Überzeugung gefestigt, dass ich in einer verbrecherischen Organisation bin und mich raushalten will, so weit es geht. Einmal exerzierten wir auf einem Acker, unter dem, wie uns der Feldwebel stolz verkündete, Tausende erschossener Juden, Polen und Ukrainer lägen. Ein anderes Mal musste ich mit dem Gewehr an der Hüfte jüdische Frauen und Kinder eskortieren, die aus einem Wald „ausgekämmt“ worden waren, wie es damals hieß, wie Ungeziefer. Als mich ein kleines Mädchen auf Jiddisch fragte, wo es hingehe, gab ich ihm, obwohl ich Schlimmes ahnte, eine beruhigende Antwort – und sofort war ein Vorgesetzter neben mir und sagte: „Halt den Mund. Wenn du noch ein Wort mit denen sprichst, kommst du vors Kriegsgericht.“
Wie nahe das war, zeigt die dritte Episode aus dieser Zeit.
Wir befanden uns in einem Partisanengebiet, in dem ein deutscher Soldat umgebracht worden war. Daraufhin mussten wir zehn willkürlich ausgewählte Angehörige einheimischer Hilfstruppen, harmlose ukrainische Jungs, zu einer angeblichen Fronttheatervorstellung begleiten. Wir mussten einen Ring um sie bilden, in dem sie zusammengeknallt wurden. Mein Glück war, dass ich noch nicht fertig ausgebildet war und deshalb noch nicht schießen durfte.
Was hättest du denn getan, wenn du selber den Schießbefehl bekommen hättest?
Das weiß ich eben nicht. Man ist ja völlig hilflos, denn man wusste, dass Befehlsverweigerung einen selber das Leben hätte kosten können. Deshalb sage ich: Es ist Aufgabe der Menschen, dass niemals Situationen eintreten, in denen man nur die Wahl hat, entweder Komplize eines Verbrechens oder Märtyrer zu werden.
Das Partisanengebiet habt ihr aber schnell wieder verlassen.
Es war wohl zu gefährlich, und so fand der größte Teil der Ausbildung in Deutschland statt. Ein furchtbarer Drill. Wir mussten sogar noch den Paradeschritt üben so kurz vor Kriegsende – wie idiotisch, dafür Zeit zu verschwenden. Je schlechter die Ausbildung, desto kleiner waren doch die Überlebenschancen an der Front.
An die Front musstest du dann im April ’44. Wie seid ihr eigentlich dorthin gekommen?
Mit dem Zug. Ich erinnere mich an eine spannende lange Bahnfahrt. Als wir neben den Gleisen von Partisanen gesprengte Waggons sahen, wurde uns klar, dass wir in gefährlichere Zonen kamen. Übers Baltikum ging es bis kurz vor Leningrad, das die Rote Armee gerade erst von der schrecklichen Hungerblockade freigekämpft hatte, von der ich natürlich erst später erfuhr. Nach einer kurzen Zeit ohne Kampfgeschehen, mit einer Kameradschaft im guten Sinne, begann der Rückzug. Nachts liefen wir meistens, bei Tage mussten wir uns verschanzen und abwehren – ein anstrengendes Hin und Her mit vielen schrecklichen Erlebnissen.
Einmal bist du in Friendly Fire geraten, wie es heute heißt.
Da sollte ich Wasser am Fluss holen, als plötzlich die eigenen Leute auf mich schossen. Keiner hatte ihnen Bescheid gesagt, dass ich unterwegs bin. Aber ich hatte mal wieder Glück. Da fällt mir eine Geschichte ein, an die ich schon lange nicht mehr gedacht habe. Meine Oma hatte mir ein silbernes Zigarettenetui geschenkt. Sie meinte wohl, dass alle Soldaten rauchen, aber es sollte auch eine Art Talisman sein, den ich am Herzen trug. Weil es mich störte, habe ich es schließlich einem Kameraden geschenkt. Zwei Tage später wurde er durch das Etui hindurch tödlich getroffen.
Das ist ja gruselig.
Da kommt man schon auf komische Gedanken, als sei der nun an meiner Stelle gestorben. Ich konnte mir ausrechnen, dass ich jederzeit selber dran sein konnte. Einige wurden auch von Granatsplittern getroffen. Seltsamerweise erinnere ich mich dennoch kaum an Todesangst. Vielleicht führt der Adrenalinausstoß dazu, dass man optimistisch bleibt und meint, mich trifft’s nicht.
Das ist in der Tat seltsam. Und noch erstaunlicher ist, dass du dir auf Posten oder im Schützengraben noch Gedichte aufgesagt oder gar selber verfasst hast. Ich würde denken, dass man vor Angst keinen klaren Gedanken fassen kann.
Ich liebte eben Gedichte. Damals konnte ich ungefähr 200 auswendig, sie waren mir ein Trost und das Dichten eine Art Therapie. Oft sind mir die Verse gleichsam gekommen aus dem Gefühl heraus: Ich muss dichten, das ist das, was mich am Leben hält. Und vielleicht das, was von mir übrig bleibt.
Vision nach der Schlacht
Schwanenburg, Juli 1944
Vergeblich sucht mein Auge nach Licht
und Zeichen und Bildern der Gnade.
Die Sonne verbarg sich, die Wälder sind dicht
und abgerissen die Pfade.
Der Himmel ist leer, ein ehernes „Nein“
scheint einzig darin zu schweben,
in dessen düsterem Widerschein
die Halden der Erde beben.
Den Gott, dem ich immer mich nahe geglaubt,
verjagten böse Dämonen.
Ich seh’ sie auf Welten, die sie geraubt,
mit kaltem Frohlocken thronen.
Das Leben erwartet geduckt und verstört
die Stunde des Trostes: die letzte.
Auch mir war, als hätt’ ich ein Klirren gehört,
wie wenn eine Sense wer wetzte.
Friedrich Hassenstein
Ein eindrucksvolles Gedicht heißt „Vision nach der Schlacht“. In welcher Situation ist es entstanden?
Das war tatsächlich nach einem Gefecht beim lettischen Ort Gulbene, deutsch Schwanenburg. Ich habe es mit Bleistift noch im Schützengraben notiert. Durch eine gerade noch rechtzeitig eingetroffene Verstärkung hatte unsere Artillerie sozusagen über die Köpfe von uns Infanteristen hinweg einen Vorstoß der Sowjets zurückgeschlagen, und wir wussten, dass wir einer großen Gefahr entronnen waren. Ich erinnere mich an eine unheimliche Landschaft und eine apokalyptische Stimmung, die ich loswerden musste. So ist eine Art Weltuntergangsgedicht entstanden.
Du hast als Frontsoldat überlebt und wurdest schließlich gefangengenommen. Die Szene, wie das geschah, ist Teil der kollektiven Familienerinnerung. Erzähl sie bitte noch mal.
Also gut. In den Morgenstunden des 25. August 1944 kauerte ich, versteckt unter Stroh, in einem Schützenloch auf einem lettischen Acker. Die Russen hatten unsere Stellungen überrannt, nun feuerte direkt auf der Böschung über mir ein Granatwerfer. Der Kopf dröhnte mir, ich spürte kaum noch meine Arme und Beine und hörte zwischen dem Getöse aufgeregte Stimmen russischer Soldaten. Schließlich schob einer von ihnen mit dem Bajonett das Stroh auseinander. Mir war inzwischen alles egal, letztlich war es eine halbe Desertion. Ich weiß noch, wie gern ich den Russen mein Gewehr überreichte. Die offizielle Formel war ja, wir müssten es lieben, als sei es unsere Braut. Aber ich hasste dieses Ding.
Dann begann mit der Gefangenschaft die nächste Extremerfahrung. Auch die hast du überlebt, wiederum mit viel Glück.
Tatsächlich hätten mich der Hunger und Folgekrankheiten, vor allem Phlegmone, eitrige Entzündungen, fast umgebracht. Ich war völlig abgemagert, Unterleib und Beine aufgequollen. Während viele meiner Lagergenossen starben, wurde ich in ein Gefangenenlazarett im zerschossenen Zarenschloss Gatschina gebracht. Mein total entzündetes Bein wurde mir nur deshalb nicht abgenommen, weil man annahm, ich würde das nicht überleben. Einmal fiel ich in eine tiefe Ohnmacht. Als ich wieder aufwachte, konnte ich einige Zeit nichts sehen, hörte aber Stimmen, die überrascht sagten: Der lebt ja noch.
Dann wurdest du wieder hochgepäppelt.
Und mir war damals noch nicht bewusst, was für ein Wunder das war: Überlebende der Leningrader Hungerblockade haben mich ernährt und gepflegt.
Zurück im Lager, hast du deine typischen Durchhaltestrategien angewendet.
Natürlich habe ich von meinem Gedichteschatz gezehrt und konnte damit auch meine Mitgefangenen beglücken. Ich habe Schlager für unsere Sänger getextet, aber es gab auch Erfolge ganz anderer Art: Weil ich als besonders ehrlich galt, wurde ich zum Brotteiler gewählt, das war eine große Ehre. Am wichtigsten war aber wohl, dass ich die Hoffnung nicht verloren habe. Ich wollte noch viele Bücher lesen – und erfahren, wie das mit den Frauen ist. Ich wollte weiter leben, weil ich nicht genug Leben bekommen hatte. Hinzu kam, dass ich für mein schlechtes Gewissen eine Art Schuldentlastung fand, und zwar durch die marxistische Geschichtstheorie.
Das musst du erklären.
Wir hatten eine kleine Lagerbibliothek, zu deren Verwalter ich bestimmt wurde. Natürlich stürzte ich mich auf die Lektüre, und es gab dort viele marxistische Schriften. In dieser Situation, als die bürgerlich-kapitalistische Zivilisation und der militaristische Nationalstaat gerade komplett versagt hatten, fiel das marxistische Ideal ewigen Friedens und persönlicher Freiheit in einer klassen- und staatenlosen Gesellschaft bei mir auf fruchtbaren Boden. Durch den „Historischen Materialismus“ fühlte ich mich sozusagen eingeordnet in die Geschichte, die demnach fast naturgesetzlich abläuft von Stufe zu Stufe. Tatsächlich machte ich die Erfahrung, dass die Russen uns die bösen Taten weniger als Deutschen verübelten, sondern als Tätern und Opfern des Faschismus. Ich wurde in einem Kurs in der Antifa-Gebietsschule in Leningrad dafür ausgebildet, im Sinne der sowjetischen Deutschlandpolitik auf meine Mitgefangenen einzuwirken. Das lag mir allerdings nicht wirklich.
So bist du nach deiner frühzeitigen Freilassung 1948 auch nicht in der sowjetisch besetzten Zone geblieben, wie es Bedingung war, sondern gleich weiter in den Westen zu deinem Bruder gereist. Wie kam das?
Das war meine zweite halbe Desertion. Ich hatte den Marxismus ziemlich schnell hinter mir gelassen, unter anderem weil ich sah, dass die Sowjetunion auch nicht gerade pazifistisch war.
Trotzdem hast du uns immer ein positives Bild von dem Land vermittelt, in dem du vier Jahre gefangen warst.
Natürlich habe ich viel Schreckliches erlebt, aber eben auch sehr viel Menschlichkeit, und diese Erinnerung ist mir wichtiger. Die russische Bevölkerung hungerte damals genauso wie wir, dass haben wir ja gesehen. Man darf nicht vergessen, dass zwar anderthalb Millionen deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion starben, aber in viel kürzerer Zeit dreieinhalb Millionen Rotarmisten in deutscher Gefangenschaft. Viele hören das bis heute nicht gern.
Als Student hast du einen langen Bericht über deine „Jugend in Gefangenschaft“ in der Deutschen Universitätszeitung veröffentlicht – und dich 1952 an gleicher Stelle gegen die Wiederbewaffnung gewendet. In dem Artikel „Erziehung auf Kasernenhöfen“ stellst du das militärische Prinzip von Befehl und unbedingtem Gehorsam grundsätzlich in Frage und warnst vor der „Rückkehr der Offiziere und Berufssoldaten der Wehrmacht in ihre alte erzieherische Schlüsselstellung“.
Das galt damals als radikal, und ich bekam viel Kritik zu spüren.
Hättest du dir gewünscht, dass Deutschland eine Art Friedensmacht geworden wäre, die aufs Militär verzichtet?
Die Idee war wohl mit der Gründung der Bundeswehr und dem Eintritt in die Nato hinfällig. Ich verstehe mich noch immer als Pazifist, auch wenn man nicht totaler Pazifist sein kann. Ich weiß schließlich, dass Auschwitz von Soldaten befreit wurde.
Du hast dich später immer wieder für den Frieden engagiert.
Das stimmt. Zum Beispiel habe ich in den Achtzigerjahren mit euch an den Ostermärschen teilgenommen. In der Zeit der Balkankriege habe ich deine Mutter bei ihren großen Hilfsaktionen für bosnische Flüchtlinge in Göttingen unterstützt, und bis heute habe ich russische und polnische Freunde.
Wie schön, dass du nach deiner Jugend im Krieg die längste Friedenszeit in der deutschen Geschichte erleben konntest.
Da hast du recht und dafür bin ich dankbar. Allerdings wird mein Optimismus von den vielen Kriegen um uns herum und beunruhigenden Wahlergebnissen derzeit auf eine harte Probe gestellt.
Friedrich Hassenstein, inzwischen 96 Jahre alt, ist über die Ereignisse in der Ukraine zutiefst erschüttert.
Das Interview erschien zuerst im Greenpeace Magazin 1.19 „Frieden!“