Der russische Terrorkrieg gegen die Ukraine trifft Menschen und Städte, die Infrastruktur, Fabriken, Kraftwerke und die Landwirtschaft. Aber auch Tiere, Wälder, Flüsse und weitere unersetzbare Naturschätze. Im ganzen Land dokumentieren Fachleute und Freiwillige den Ökozid und setzen sich für einen nachhaltigen Wiederaufbau ein.
Es ist nur eine kleine Wiese mit Kräutern und Wildpflanzen aus der Umgebung. Dazu selbst gebaute Bruthilfen für Eulen, Behausungen für Meisen, Igel und Insekten, wirklich nichts Großes. Aber diese grüne Mini-Oase auf dem Schulgelände des „Lyceum No. 1“ in Krasnokutsk ist auch ein Zeichen dafür, dass sie hier an das Leben glauben. Unterstützt von der NGO „Green Art Tour“ hatten Jugendliche 2023 das Biodiversitätsprojekt gestartet. Ein Ort des Lernens und Forschens sollte entstehen, Lokalpatriotismus inklusive.
„In der Natur hier gibt es eine wunderbare Vielfalt an Lebensformen“, schwärmt „Green Art Tour“-Organisator Artur Koichurenko. „Wir wollen zeigen, dass sich unsere Gemeinde trotz schwieriger Bedingungen nachhaltig entwickeln kann und ein Vorbild für die ganze Ukraine wird.“ Der Krieg, der hier in der Region Charkiw noch immer tobt, ist nur ein paar Dutzend Kilometer entfernt. Am 24. Februar 2022 war Russlands Armee in die Ukraine einmarschiert, die Eskalation einer aggressiven Expansionspolitik, die 2014 auf der Krim begonnen hatte. Über 11.000 ukrainische Zivilistinnen und Zivilisten wurden seither getötet. Elf Millionen Menschen verloren ihre Heimat. Eine Auswertung von Satellitendaten zeigte 200.000 zerstörte oder beschädigte Gebäude, vor allem im Süden und Osten, aber auch in der Hauptstadt Kiew.
Die Liste russischer Kriegsverbrechen ist lang. Bombenangriffe auf Kindergärten, Schulen, Kirchen oder Einkaufszentren gehören zum Alltag. Der Krieg, den Wladimir Putins Soldaten führen, ist ein totaler. Er schließt Industrieanlagen, die Energie- und Wasserversorgung und die übrige Infrastruktur mit ein. Und er gilt auch der Natur und der Tierwelt, eine Attacke auf die Lebensgrundlagen des Landes. „Der Krieg hat Umweltschäden in Höhe von mehr als 56,4 Milliarden Dollar verursacht“, bilanziert eine Anfang 2024 veröffentlichte Studie. „Luft, Wasser und Boden sind in großem Umfang kontaminiert, dreißig Prozent der Ukraine mit Landminen und Blindgängern verseucht.“
Das Umweltministerium hat eine App namens EcoZagroza entwickelt, die aktuelle Daten etwa zur Luftqualität oder der Strahlenbelastung liefert. Mit ihr können auch Umweltverbrechen, Waldbrände, Boden- und Gewässervergiftungen gemeldet werden. Über 5000 Vorfälle kamen bis Juni 2024 zusammen. Seit dem ersten Kriegstag arbeiten viele Menschen daran, dass die Ukraine trotz der Zerstörungen noch eine Zukunft hat. Sie nehmen Proben, untersuchen, kartografieren, sammeln Beweise für den Ökozid, um Russland eines Tages dafür zur Verantwortung ziehen zu können. Sie schützen und planen, sie mobilisieren und motivieren für einen Wiederaufbau unter nachhaltigen Vorzeichen, so schwer das manchmal auch fallen mag.
Schutzlose Vielfalt
Maria Fedoruk sitzt in ihrem Arbeitszimmer in Iwano-Frankiwsk, 140 Kilometer südlich von Lwiw. Sie ist zu Hause, ein großes Wort. „Als ich im März 2022 mit meinem Sohn vor dem Krieg geflohen bin, wusste ich nicht, ob ich je hierher zurückkommen würde“, sagt sie. Viele Freundinnen und Freunde sind fort, einige tot, die meisten Männer in der Armee. Dafür leben hier jetzt viele Geflüchtete aus den ukrainischen Kampfgebieten.
Die Umweltökonomin hatte Glück im Unglück und einen engagierten Förderer. Walter Leal, Leiter des Forschungszentrums „Nachhaltigkeit und Klimafolgenmanagement“ an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften, HAW, kannte ihre Arbeit und bot ihr einen Job in Hamburg an. Als Leiterin des Forschungsprojekts „Ukraine-Nature“ dokumentiert Fedoruk mit ihrem ukrainisch-polnisch-deutschen Team die Auswirkungen des Krieges auf Naturschutzgebiete. Mit ursprünglichen Steppenlandschaften, uralten Wäldern und vielen Mooren gesegnet, weist die Ukraine eine hohe Vielfalt an Lebensräumen auf; 35 Prozent der europäischen Biodiversität sind hier versammelt. Der russische Angriff bedrohe all das, erklärt Fedoruk.
Die vielen Explosionen verursachen neben der direkten Zerstörung auch toxische Schäden. Giftige Schwermetalle wie Blei oder Quecksilber werden in Luft, Wasser und Böden freigesetzt. Es sei wichtig, die Daten und Fakten zu sammeln, auch um zu wissen, was für die Wiederherstellung der Landschaften nötig ist.
44%
der besonders geschützten Flächen in Naturreservaten und Nationalparks sind vom Krieg betroffen oder sogar komplett vernichtet
Fedoruks Arbeit ist mit der ständigen Sorge verbunden, jemandem aus ihrem Team könnte etwas zustoßen. „Anastasia Splodytel zum Beispiel, eine ganz erfahrene Forscherin. Sie nimmt Bodenproben in Bombenkratern, um die Kontamination zu analysieren.“ Fedoruk zieht eine Strähne in die Stirn und hält sie vor die Videokamera. „Ich habe beim Gedanken an sie ganz graue Haare bekommen.“
Besonders gefährlich sei die großflächige Verminung. Viele Sprengsätze seien inzwischen überwachsen, mit Luftaufnahmen spezieller Wärmekameras könne man sie aber erkennen. Auch verändern manche Pflanzen in ihrer Umgebung die Farbe. „Wegen der Minen ist es unmöglich, einige Reservate zu betreten“, sagt Fedoruk. „Das ist auch eine große Gefahr für die vielen, teils seltenen Tiere, die darin leben.“ Doch in einem Land, in dem siebzig Prozent der Menschen in Städten leben, genießt Minenräumung in der Natur nicht die höchste Priorität.
Maria Fedoruk berichtet, wie russische Truppen in Wäldern Brände gelegt hätten, um die Feuerwehr und freiwillige Helfer in einen Hinterhalt zu locken und zu töten. „So etwas hätte ich mir vorher nicht vorstellen können.“ In beinahe allen zurückeroberten Nationalparks war die Ausstattung der Forschenden wie Wärmebildkameras oder Messstationen, selbst Büromöbel oder Toilettenbecken, zerstört.
757 Jahre
könnte es dauern, die Ukraine wieder von allen Minen zu befreien
Natur vergisst nicht
Gut, dass Anna Kuzemko, leitende Forscherin am Institut für Botanik der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine, im Sommer mit dem Greenpeace Magazin spricht. Ab Herbst wird es in dem klassizistischen Gebäude in Kiew unangenehm kühl. Bei einem Angriff im Oktober 2022 war es schwer beschädigt worden. Fenster zerbarsten, das Dach gab nach. Noch sind die Schäden nicht vollständig beseitigt. „Andere hat es schlimmer erwischt“, sagt Kuzemko und verweist auf Kolleginnen und Kollegen von der Universität in Cherson, die alles verloren hätten.
Die Wissenschaftlerin kommt gerade zurück von einer ihrer häufigen Exkursionen durch die kriegsgeplagte Natur. Am liebsten sind ihr Steppen. Die seien ökologisch komplexer, als sie auf den ersten Blick erscheinen, sagt sie. Einmal schlugen 200 Meter von ihrem Wagen entfernt Bomben ein, und sie musste abbrechen.
Anna Kuzemko gehörte zu den ersten Expertinnen, die nach dem russischen Anschlag auf den Damm am Kachowkaer Stausee im Juni 2023 die massiven Schäden in Augenschein nahmen. Die freigesetzten Wassermassen hatten Wohngebiete, Felder und ein Naturschutzgebiet überspült. Dutzende Menschen starben. 150 Tonnen Schweröl ergossen sich in die Landschaft. Viele Tiere und beinahe der gesamte Fischbestand verendeten. Befürchtet wurde die Austrocknung der Region, sobald das Wasser abgeflossen sein würde.
Doch bald zeigte sich laut Kuzemko Erstaunliches: Die Natur scheint sich zu erholen. Böden haben ein Gedächtnis. Inzwischen ist am ehemaligen Flussbett ein Auenwald mit Weiden und Pappeln gewachsen. „Es ähnelt sehr dem Ökosystem, das es dort vor siebzig Jahren gab, also vor dem Bau des Staudamms.“ Zwar sei es für Prognosen noch zu früh, aber die Entwicklung sei angesichts der sonstigen ökologischen Katastrophen infolge des Krieges ein kleiner Lichtblick.
Die Entwicklung am ehemaligen Stausee steht symbolisch für einen Konflikt beim Wiederaufbau. Während die ukrainische Regierung ankündigt, möglichst alles wieder in den Zustand vor dem russischen Anschlag zu versetzen, fordern Wissenschaftlerinnen und Umweltaktivisten, an manchen Stellen der Natur ihren Lauf zu lassen. Wenn man es hier von Anfang an richtig mache, sagt Kuzemko, ebne das auch den Weg in die EU. Europa habe sich darauf verständigt, 25.000 Kilometer Flüsse wieder in ihre natürlichen Läufe und Überschwemmungsgebiete zurückzuführen. Die Ukraine könnte dazu einen großen Beitrag leisten, indem sie den ursprünglichen Flusslauf des Dnipro wiederherstellt. Eine Rekonstruktion der Stauanlagen würde die Renaturierung der gerade wiedererwachten Landschaft beenden. „Die Natur zu zerstören ist langfristig kostspieliger, als sie zu erhalten.“
Ohne Grenzen
Als Ecoaction 2017 gegründet wurde, köchelte im Osten der Ukraine zwar schon ein Krieg und die Krim war bereits besetzt, aber es gab trotzdem Gründe, an eine nachhaltigere Zukunft zu glauben. Ecoaction ist die größte nichtstaatliche Umweltorganisation des Landes und setzt sich „für Energieeffizienz, erneuerbare Energien, die Bekämpfung des Klimawandels, saubere Luft für alle und eine nachhaltige Entwicklung der Landwirtschaft in der Ukraine ein“. Sie verbindet Forschende, Fachleute und Umweltaktive. Zu den internationalen Partnern und Sponsoren gehören die Friedrich-Ebert- und die Heinrich-Böll-Stiftung, Germanwatch und die Swedish Society for Nature Conservation.
Anastasia Ivanchuyk und Bohdan Kuchenko machen seit einigen Jahren mit. Ivanchuyk entwickelt mit Gemeinden in der Zentralukraine und im westlichen Teil des Landes lokale Klimaschutzpläne. „Es gibt viele Menschen dort, die gern etwas Sinnvolles tun wollen“, erklärt sie. Doch vielerorts fehle es an der notwendigen Expertise, weil Fachleute etwa für Energie oder Gebäudesanierung in der Armee oder an anderen Brennpunkten kämpfen würden. Kuchenkos Thema ist der Schutz natürlicher Ressourcen. Wertvolle Steppen würden in Agrarflächen umgewandelt. Auch illegale Abholzung spielt eine Rolle. Da werden angeblich aus Feuerschutzgründen riesige Schneisen in eigentlich geschützte Wälder geschlagen oder in verminten Zonen Bäume gefällt. Erst im Juni wurde der Direktor des Volyn-Nationalparks zusammen mit zwei Holzunternehmern verhaftet. Im Wald waren unter anderem über 165 Jahre alte frisch gefällte Eichen entdeckt worden.
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Industrieanlagen und Kraftwerke wurden zerstört. Vergiftetes Wasser, verseuchte Luft und Böden sind die Folgen
Beim Krieg und seinen Folgen für die Umwelt gehe es nicht „nur“ um ihr Land, sagen Ivanchuyk und Kuchenko. „Die ganze Welt ist mitbetroffen. Umweltschäden kennen keine Grenzen.“ Anastasia Ivanchuyk verweist auf eine Kalkulation der „Initiative on Greenhouse Gas Accounting of War“, nach der in den ersten 24 Monaten des Krieges 175 Millionen Tonnen Treibhausgase zusätzlich freigesetzt worden sind, mehr als in Österreich und Belgien in einem Jahr zusammen.
Ivanchuyk und Kuchenko leben in Kiew. Ihre Augenringe zeugen von häufigem Sirenenalarm und großen Sorgen. „Ich stamme aus der Gegend um Saporischschja, viele Verwandte leben noch immer dort“, sagt Ivanchuyk. Das russisch besetzte AKW Saporischschja produziert seit Herbst 2022 keinen Strom mehr. Ein Teil des Geländes ist nach Angaben der Internationalen Atombehörde IAEA vermint. „Unhaltbare Zustände“ herrschten dort.
Zusammen mit fünfzig anderen Organisationen legte Ecoaction bereits ein Vierteljahr nach dem russischen Überfall einen grünen Wiederaufbauplan für die Ukraine vor. Seither erschienen zahlreiche „Policy Papers“ und „Roadmaps“, auch der „Ukraine-Plan“ der Europäischen Union enthält ein Kapitel zu umweltpolitischen Kriterien für den Wiederaufbau. Sowohl in der Klimapolitik als auch bei der Bewahrung und Wiederherstellung natürlicher Ressourcen solle sich die Ukraine an europäischen Richtlinien orientieren. Viele internationale „Recovery“-Konferenzen fanden statt, zuletzt im Juni in Berlin.
Doch während es in der Ukraine erfolgreiche kleine Ökoprojekte in den Kommunen gibt, die aus dem Ausland unterstützt werden, sitzen bei Verhandlungen inzwischen auch internationale Unternehmen mit am Tisch, für die Nachhaltigkeit nicht unbedingt die wichtigste Rolle spielt. „Wir können nicht einfach zu dem Zustand vor 2022 zurück“, sagt Bohdan Kuchenko. „Es geht jetzt auch darum, zu überlegen, wie unsere Wirtschaft und unser Leben in zehn, zwanzig Jahren aussehen soll.“ Die Zerstörung der riesigen Kraftwerke zeige, wie verwundbar die Ukraine durch die Zentralisierung der Energiewirtschaft geworden sei. Die alten Strukturen wiederherzustellen wäre ein Riesenfehler. Derzeit laufen viele Dieselgeneratoren für die Notversorgung, dies sei unvermeidbar, unterstreiche aber das Dilemma.
Eine vom Berliner Nachhaltigkeits-Thinktank Adelphi in Auftrag gegebene Studie ergab, dass ein Wiederaufbau der Ukraine nach ökologischen Kriterien – etwa bei Gebäudesanierungen oder einer zukünftigen, dezentralen Energieversorgung – mittelfristig günstiger ausfallen würde als die Rückkehr zum früheren Zustand. Im Juni veröffentlichte Greenpeace einen „Solarenergie-Marshallplan für die Ukraine“, der vorrechnete, dass das Land in den kommenden drei Jahren fünfmal mehr Solarenergie bereitstellen könnte als die Regierung plant. Auf einem Hundertstel der Landesfläche ließe sich die komplette Stromversorgung des Landes mit Wind- und Solarenergie realisieren. Die Ukraine sei „ein schlafender Riese“ mit dem Potenzial, grüne Energie in großem Maßstab ins europäische Ausland und in die ganze Welt zu exportieren.
Grüner und schöner
Venedig, Herbst 2023, Architekturbiennale. Erstmals seit 2014 ist die Ukraine wieder mit einem Pavillon vertreten. Unter dem Titel „Before the Future“ stellt sich das Land einem Paradox: Wie baut man die Welt von morgen, wenn um einen herum gerade alles zusammenbricht?
Daryna Pyragowa hat in einem vierköpfigen Team an einem Teil der Ausstellung mitgearbeitet. Videos zeigen die unheimliche Schönheit bedrohter, teils kriegsgeschädigter Steppen, Seen und Wälder. „Wenn etwas als ‚grün‘ bezeichnet wird, geht es meist um grüne Energie, nicht um die Natur selbst“, sagt Pyragowa mit Blick auf die Wiederaufbaupläne. Das Projekt „30 Prozent“ soll der Natur eine Stimme geben. „Die Zahl ist auch eine Provokation.“ Dreißig Prozent der Ukraine sind derzeit vermint, zerstört oder besetzt. Dreißig Prozent aller Flächen möchte die EU bis 2030 der Natur zurückgeben. Bislang stehen in der Ukraine erst 6,8 Prozent unter Schutz. 30 Prozent sollen es auch in ihrem Land einmal werden, schlägt Pyragowa vor. „Natürlich benötigen wir zukünftig Holz, Wasser, Steine. Aber wir brauchen auch ein neues Verhältnis zur Natur.“
Gerade geht es ums bloße Überleben. Wer mag da über eine Zukunft nachdenken, in der sich die Natur zurückholt, was Krieg und Industrialisierung ihr genommen haben? Und doch steckt in Visionen wie den „30 Prozent“, in Projekten wie der Mini-Biosphäre in Krasnokutsk, in jedem Plan, die Ukraine nicht nur wieder aufzubauen, sondern grüner und schöner zu machen, auch die Kraft, die das Land am Leben hält. In einem der Interviews für diesen Report fiel ein Satz, der nur anonym zitiert werden darf, weil er so missverständlich klingt. Aber er trifft das Gefühl aus Verzweiflung und Hoffnung gut: „Es geht auch darum, wieder etwas zu haben, was zu verlieren schmerzt.“
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe 5.24 "Mut". Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!