Wildnis galt lange Zeit als das Unzivilisierte, Fremde, Bedrohliche. Etwas, das es zu erobern galt – oder in die Schranken zu weisen. Bis der Mensch ihren wild- romantischen Zauber entdeckte. In der Ausgabe 2.22 nimmt unsere Redakteurin Katja Morgenthaler Sie mit auf einen Streifzug
An Selbstbewusstsein mangelte es dem hohen Beamten nicht. Im Jahr 1822 schrieb der Wasserbauingenieur Johann Gottfried Tulla in einer Denkschrift zur „Rektifikation“, also der Berichtigung, des Rheins: „In der Regel sollten in kultivirten Ländern die Bäche, Flüsse und Ströme, – Kanäle – seyn, und die Leitung der Gewässer in der Gewalt der Bewohner stehen.“ Tulla, Oberdirektor für Wasserbau im Großherzogtum Baden, warb für ein Projekt von nie dagewesener Dimension: Er wollte den Oberrhein „von seinem Austritt aus der Schweitz bis zu seinem Eintritt in das Großherzogthum Hessen“, von Basel bis Mannheim, begradigen.
„Es war das größte Bauvorhaben, das jemals in Deutschland in Angriff genommen wurde“, schreibt der britische Historiker David Blackbourn. Bereits vier Jahre hatte Tulla die ersten Abschnitte fertigstellen können. Im Januar 1818 hatte das Dorf Eggenstein bei Karlsruhe ihn unter Hochrufen empfangen, als er zum ersten Mal in Begleitung anderer Ingenieure und Soldaten auf dem neuen Teilstück fuhr. Eggensteins Gemeindediener trug ein Gedicht vor. Dank „Tula dem Menschenfreind, Der so gut es mit uns meint“ sei man „auf hundert Jahr hinaus, Geriessen aus der Noth heraus“. Am Ende verglich er Tulla mit dem Heiland.
In der Tat kam die „Korrektion“ des Rheins für viele einer Erlösung gleich. Bis ins 19. Jahrhundert wand sich der Strom in weiten Schleifen durchs Land, mäanderte im Oberrheingraben, wie es ihm gerade passte: Einem Delta von Wasserarmen gleich gurgelte er in zahllosen Rinnen zwischen Kies- und Sandbänken dahin. Teils mehrere Kilometer breit, tränkte er wuchernde Auen, umspülte Tausende Flussinseln und änderte Hochwasser um Hochwasser seinen Lauf. Das mag malerisch ausgesehen haben. Doch viele Orte waren regelmäßig überschwemmt. Dörfer mussten aufgegeben werden, weil der Rhein kam, aber nicht wieder ging. Und in den Auen brüteten Stechmücken, die das gefürchtete Sumpffieber verbreiteten.
„Im 18. Jahrhundert fielen in Deutschland mehr Menschen der Malaria zum Opfer als dem Krieg“, schreibt Blackbourn. Es klang verlockend, wenn Tulla versprach: „Das Klima längs dem Rhein wird durch Verminderung der Wasserfläche auf beinahe ein Drittel (…) angenehmer und die Luft reiner werden.“ Wo einst Morast gewesen, würde zudem Land gewonnen. Die Rheintiefebene sollte ein Garten sein – blühend und fruchtbar. Tulla war streng mit der Natur, sein Credo: „Kein Strom oder Fluss, also auch nicht der Rhein, hat mehr als ein Flussbett nötig.“
Der Ingenieur erlebte nicht mehr, wie seine Berichtigung des Rheins Wirklichkeit wurde. Als das Knäuel der Flussschlingen in den 1870er-Jahren schließlich geglättet war, hatte der Rhein zwischen Basel und Bingen gut achtzig Kilometer an Länge verloren und floss als vermeintlich zahme Wasserstraße gen Norden. Tullas Heimatstadt Karlsruhe setzte ihrem Sohn einen Gedenkstein mit der Inschrift: „Dem Bändiger des wilden Rheins“.
Es ist nicht der einzige Gedenkstein, der bis heute mit Stolz vom Sieg über die Natur kündet. Dutzende Wolfssteine und Wolfssäulen von Schleswig-Holstein bis Baden-Württemberg erinnern an den jeweils „letzten Wolf“ der Region – zur Strecke gebracht vom 17. bis ins 20. Jahrhundert hinein. Oft lobte die Obrigkeit blanke Taler auf den Abschuss aus. Staatsziel: Ausrottung. Ein offiziell erklärter Krieg tobte auch gegen Bär, Luchs und kleinere Tiere wie Biber, Hamster und Spatz, die als „Räuber“ oder „Schädlinge“ galten.
Krieg dem „wüsten“ Land
Wildnis – das war lange Zeit kein Urlaubsort. Es war das zu bekämpfende andere – unnütz und oft genug sogar gefährlich. Wildnis musste dezimiert und kontrolliert, Land musste urbar gemacht, Wälder mussten gerodet werden, um Zivilisation zu ermöglichen. Es war vor allem ein Kampf mit der Natur, nicht um sie. Und im Duktus des Krieges wurde darüber gesprochen. Preußens König Friedrich der Große etwa schickte bereits im Jahrhundert vor Tullas Rheinbegradigung Soldaten ins Oderbruch, um die Trockenlegung dieses weitverzweigten Binnendeltas voranzutreiben. Wer „wüst liegendes Land“ urbar mache und Sümpfe austrockne, so Friedrichs Meinung, mache „Eroberungen von der Barbarei“. Im frisch eroberten Oderbruch siedelte er auf einstigem „Unland“ neue Untertanen an. Es lag im Zeitgeist des aufgeklärten Absolutismus, dass Friedrich sich als König nicht nur der Menschen begriff, sondern auch die Natur zu befehligen suchte. Denn deren Beherrschung war ein Gradmesser für den Fortschritt eines Landes.
Tatsächlich hatten sich die Kräfteverhältnisse vor der Industrialisierung noch keineswegs so eindeutig zugunsten der Menschen verschoben wie heute. Die unberechenbare Natur hatte mehr Macht über Leben und Überleben. Noch im 11. Jahrhundert waren Siedlungen und Felder in Mitteleuropa nur Inseln der Zivilisation inmitten von terra inculta, unkultivierter Erde, die mit Wald und Mooren bedeckt war. Der Wald lieferte den wichtigsten Rohstoff überhaupt: Holz. Allerdings musste ihm jeder Quadratmeter Acker mühsam abgerungen werden. Nicht anders verhielt es sich an der Küste. Die See lockte mit Fisch und fruchtbaren Böden an der Küste. Im Gegenzug für ihre Gaben schickte sie vernichtende Sturmfluten.
Als die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm 1806 ihre Sammlung der Kinder- und Hausmärchen begannen, war die Welt von Rotkäppchen und dem bösen Wolf, die Welt vom Fischer und seiner Frau noch nicht ganz vergangen, aber sie veränderte sich bereits rasant. Der größte Teil der Märchenwälder war gerodet.
Ab 1815 entstanden in den Staaten des Deutschen Bundes vermehrt Fabriken, ragten Schlote in die Höhe, verschwand Natur aus dem täglichen Erleben, eine Voraussetzung dafür, dass sie vermisst werden konnte. Das taten – in der Kulturepoche der Romantik – vor allem Künstlerinnen und Künstler. Wildnis wurde zu einem Ort der Freiheit von Zwang und Zivilisation.
Der Dichter Johann Ludwig Tieck suchte die Waldeinsamkeit, der Maler Caspar David Friedrich postierte einen Wanderer über dem Nebelmeer und der Komponist Carl Maria von Weber ließ seinen Freischütz in einer Wolfsschlucht singen. Wer die neue Zeit zu schnelllebig fand, hatte fortan einen bis heute gültigen Sehnsuchtsort: die „unberührte“ Wildnis. Als romantische Idee wurde sie so schön, wie sie in Wahrheit nie gewesen war.
Ob es so etwas wie unberührte Natur gegeben hat, seit Menschen die Erde betraten, ist fraglich. Vor Kurzem veröffentlichte der US-amerikanische Historiker Daniel R. Headrick eine globale Umweltgeschichte mit dem Titel „Macht euch die Erde untertan“. Er zeichnete nach, wie Homo sapiens seit der Steinzeit in jedem Erdteil, den er erreichte, Spuren hinterließ. Statt sich der Umgebung anzupassen wie die Neandertaler, hätten die modernen Menschen begonnen, „die Umwelt entsprechend ihren Bedürfnissen zu verändern“, schreibt Headrick. Wohin sie auch gingen – das Aussterben jagdbarer Tiere säumte ihren Weg. „Ein großer Teil der Weltgeschichte besteht daraus, dass die Menschen allmählich die Werkzeuge zur Erfüllung ihrer Wünsche auf Kosten der übrigen Natur erwarben.“
Das klingt deprimierend. Aber ist es die einzige Lesart der Geschichte? Mensch gegen Natur? Oder bedeutet es nicht auch, dass Menschen von jeher Teil der Natur gewesen sind? Wildnis als menschenleeren Referenzraum hat es so nie gegeben. Und wie könnte sie heute existieren, da menschlicher Einfluss etwa in Gestalt der Klimakrise noch in die fernsten „Naturparadiese“ dringt? Wildnis – als Traum wie auch als Albtraum – ist ein Produkt des menschlichen Geistes. Sie ist ein Stück Kultur, sie ist Wunsch und Werturteil. Sie ist, was Menschen als Wildnis betrachten.
So verstanden die Pilgerväter (und -mütter) das Amerika, das sie nach dem Anlegen der „Mayflower“ vorfanden, als Wildnis. Doch die Great Plains, die Großen Ebenen mit ihren grasenden Bisons, waren ebenso wenig „wild“ wie die vermeintlich primitiven „Wilden“, die sie durchstreiften. Die Steppe war in Teilen ihr Werk, das Ergebnis einer uralten Kulturtechnik. Bereits die „Paläo-Indianer“, schreibt Headrick, „brannten Wälder ab, um Pflanzenfresser zur Vermehrung zu ermuntern“. Später störten die Indigenen das Idyll der entstehenden Nationalparks in God’s Own Country und wurden von ihrem Land vertrieben. Es entstanden „Wildnisse“ – so menschenleer wie seit mehr als zehntausend Jahren nicht.
Wenn es aber streng genommen keine natürliche Wildnis gibt, sondern der Mensch immer Teil des Ganzen ist, kann er die Wildnis dann besiegen und dabei gewinnen? Bereits als Johann Gottfried Tulla, der „Vater des Rheins“, sich anschickte, dem Strom das „richtige“ Bett zu weisen, traf sein Projekt auf Gegenwehr. Wellen schlug der erbitterte Widerstand der Fischer, die von der neuen Zeit nichts wissen wollten, und die Bauarbeiten wo immer möglich sabotierten. Zu Recht: Mit dem alten Rhein verschwanden auch viele der bis dahin mehr als vierzig Fischarten aus dem Fluss, darunter Lachs und Stör. Das war das Ende der Fischer. Und mit den Auwäldern eliminierte Tulla zwar das Sumpffieber, aber auch Erlen, Libellen, Frösche, Fischadler – und natürliche Überlaufzonen. Als der Rhein schließlich durchkorrigiert war und schneller floss, verlagerten sich katastrophale Hochwasser flussabwärts – nach Koblenz, Bonn und Köln.
Heute ist die Korrektur solcher Korrekturen im Gange. Stellenweise werden Auen – auch am Rhein – renaturiert. Im Großen und Ganzen wird der Fluss aber ein Kanal bleiben. Es wäre nun wohlfeil, sich über Fortschrittsutopisten wie Tulla zu erheben, ihren Machbarkeitswahn zu beklagen. Der Krieg gegen die Natur ist ja – aller romantischen Naturliebe zum Trotz – keineswegs vorbei. Im Gegenteil. Nur spricht die Menschheit nicht mehr mit Stolz darüber, sondern meistens lieber gar nicht.
Weitere Geschichten zur Wildnis in Deutschland finden Sie in der Ausgabe 2.22 „Wildnis Wagen“ des Greenpeace Magazins. Hier dreht sich im Schwerpunkt alles um den Konflikt zwischen der Sehnsucht nach rauer Schönheit und ihrer wirtschaftlichen Nutzung. Denn Wildnis ist – mit ihren faszinierenden Mooren, üppigen Auen oder schroffen Bergen – die Lebensversicherung einer vielfältigen Tier- und Pflanzenwelt und damit auch Garantin unseres Überlebens. Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!