Der Deutschen liebstes Ökosystem ist im Sommer 2020 braun gefleckt. Was Experten daran besonders alarmiert: Nicht nur monotone Nadelbaumforste sterben großflächig ab, auch angeblich robuste Mischwälder sind durch Dürre und Baumkrankheiten bedroht. Um im Klimawandel zu bestehen, muss der Wald sich grundlegend ändern. Die Frage ist, wie viel menschliche Hilfe er dabei braucht – und wie er in Zukunft aussehen wird
EBRINGER WALD
Herr Bucher und die Buchen
Die Schneeburg auf dem Schönberg bei Freiburg ist ein beliebtes Ziel für Sonntagsausflügler. Man kann gut picknicken zwischen den Mauern der mittelalterlichen Ruine, die schon seit Jahrhunderten verfällt, und dabei jetzt auch die Überreste eines Buchenwaldes betrachten, der erst im vergangenen Jahr das Zeitliche gesegnet hat. Bleiche Baumskelette ragen auf der Bergkuppe gegenüber in den Himmel wie ein schaurig-schönes Menetekel. Die Vergänglichkeit des scheinbar Starken und Stabilen zeigt sich an diesem malerischen Ort nun gleich doppelt.
„Grad die alten Buchen hat’s getroffen“, sagt Jürgen Bucher. Der Revierförster der Gemeinde Ebringen hat in seinen 17 Amtsjahren schon viele Bäume sterben sehen. „Aber wenn plötzlich hundert Hektar Wald nicht mehr austreiben, dann ist das natürlich ein Schock.“ Erst habe er noch überlegt, ob ein Käfer oder ein Pilz die Ursache sein könnte, erzählt er. „Doch bald war klar, dass den Bäumen einfach das Wasser fehlt.“
Kulissen wie die an der Schneeburg sind in den vergangenen Jahren nicht nur in Deutschlands wärmstem Winkel entstanden. Vom Schwarzwald bis in den Harz, vom Rheinland bis nach Thüringen, vom Stadtwald bis in die Gebirgslagen starben Abertausende Bäume. Forstexperten sprechen von einer Zäsur, von einem neuen Waldsterben gar, infolge von Dürre, Hitze und dadurch ausgelöstem Schädlingsbefall. Laut Waldzustandsbericht war der Kronenzustand von Deutschlands Bäumen „noch nie so schlecht wie 2019“. Zwei Jahre ist der Hitzesommer 2018 nun her, der extremste seit Beginn der Wetteraufzeichungen. Doch noch immer zeigt der „Dürremonitor“ des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung in Leipzig den tiefen Boden in weiten Teilen der Republik rot bis dunkelrot. Nun streiten die Gelehrten, was zu tun ist.
Die betroffenen Gebiete schnellstmöglich räumen und großflächig wieder aufforsten – oder vermehrt auf die Selbstheilungskräfte der Natur vertrauen? Exotische Bäume pflanzen – oder auf die Anpassungsfähigkeit heimischer Arten setzen? Gesunde Wälder intensiv nutzen, um mit dem Holz fossile Brennstoffe und energieintensive Werkstoffe zu ersetzen – oder die Bäume wachsen lassen, sodass sie möglichst viel CO2 aus der Luft filtern? Die Forstwirtschaft steht vor riesigen Herausforderungen. Sie muss Zeiträume im Blick haben, die weiter in die Zukunft reichen als die meisten Klimaprognosen. Heute gemachte Fehler betreffen mehrere Menschengenerationen.
MOOSWALD BEI FREIBURG
Globaler Wald vom Reißbrett
Jürgen Bauhus sprüht sich die Beine mit Zeckenschutzmittel ein, dabei hat er schon eine zeckensichere Hose an, aber doppelt hält besser. Dann schiebt er ein paar Zweige beiseite und betritt ein Biotop der besonderen Art, das er selbst geschaffen hat. Alle zwanzig Meter verändert sich in diesem Wäldchen das Licht. Es wird heller oder dunkler, grüner oder brauner, astiger oder laubiger – ein Forst im Schachbrettmuster.
Bauhus ist Professor für Waldbau an der Universität Freiburg und hat vor zwölf Jahren an einem Autobahnkreuz westlich der Stadt 14 verschiedene Baumarten pflanzen lassen, jede in vier Rechtecken. Die Bäume stehen darin in Reih und Glied und werden von Forschern und Studenten regelmäßig eingehend auf Gesundheit und Wachstumsleistung untersucht. Das geometrische Versuchswäldchen soll helfen, die Arten der Zukunft zu identifizieren – Spezies also, die mit den Bedingungen in einem wärmer werdenden Land gut zurechtkommen.
Schnell wird klar, dass es die Baumart, die alles kann, nicht gibt. Im ersten Quadranten stehen Zerreichen, Herkunft Südeuropa, mit großen spitz gelappten Blättern. Bauhus freut sich über die geringe Mortalität: „Die stehen alle noch da, wie sie gepflanzt wurden, und haben sich ganz prima entwickelt.“ Aber: „Wenn Sie einen Sägewerker fragen oder einen Furnierhersteller, wird der die Nase rümpfen.“ Das Holz, weiß der Professor, habe leider nicht die gleiche Qualität wie das der heimischen Stiel- und Traubeneichen.
Im nächsten Quadranten stehen Eschen. Viele sind abgestorben, Sträucher haben sich angesiedelt. „Als das Projekt begann, galt die Esche noch als verheißungsvolle Art, was den Klimawandel angeht“, berichtet Bauhus, „aber sie ist total gefloppt.“ Ein aus Asien eingeschleppter Pilz, das Falsche Weiße Stängelbecherchen, habe sich seit der Jahrtausendwende in ganz Europa ausgebreitet und einen Großteil der Bäume dahingerafft. „Man würde nicht vermuten, dass sich hinter so einem poetischen Namen solch ein Schurke verbirgt.“
Bauhus sitzt dem Wissenschaftlichen Beirat für Waldpolitik des Bundeslandwirtschaftsministeriums vor. Er sieht den Wald vor allem als vom Menschen geformten Wirtschaftsraum und hat den Ruf, wenig Scheu vor der Einführung neuer Arten zu haben. Dass ein heimischer Baum nach dem anderen „ausfällt“ und nach Ulme und Esche jetzt auch die Buche schwächelt, bestärkt ihn in seinem Kurs. Er schlägt sich weiter durchs Unterholz und bleibt zwischen einem Nadel- und einem Laubbaumversuchsfeld stehen.
„Hier haben wir die beiden nordamerikanischen Arten direkt nebeneinander. Die Douglasie“, er dreht sich, „und die Roteiche. Auch die wächst super.“
Wäre die Roteiche also ein Kandidat für die vermehrte Anpflanzung in Deutschland? „Ja“, sagt Bauhus, „aber nicht uneingeschränkt.“ Sie sei nämlich potenziell invasiv, man müsse sich also gut überlegen, wie man vorgeht. „Wir sollten sie in eine Matrix heimischer Arten einmischen, etwa von Buche oder Hainbuche, also Schattbaumarten, die verhindern können, dass sich die Roteiche exzessiv ausbreitet.“ Bauhus möchte den Eindruck vermeiden, er habe das ökologische Gleichgewicht der Wälder aus den Augen verloren. Es gebe Untersuchungen, erklärt er, die belegten, dass auch gebietsfremde Baumarten einen Teil der Biodiversität heimischer Insekten und anderer Organismen stützen könnten. „Je enger eine neu eingeführte Baumart mit unseren einheimischen verwandt ist, desto besser.“
Trotz der abwägenden Worte des einflussreichen Forstexperten fragt man sich, ob der deutsche Wald unter seiner Obhut gleichsam globalisiert werden könnte, bepflanzt mit internationalen Erfolgsmodellen. „Die Roteiche könnte dort eine Rolle spielen, wo die Buche Probleme bekommt“, spekuliert Bauhus. „Ihr Holz ist vielfältig einsetzbar, etwa als Dielenholz, Parkett oder Möbelholz.“ Es gebe nur ein Manko: „Weil die Poren zu groß sind, kann man keine Weinfässer draus machen.“
KRANZBERGER FORST BEI FREISING
Von der Krone bis zur Wurzel
Thorsten Grams bedient eine Fernsteuerung, und lautlos geht es in einer leicht verbeulten Gondel aufwärts, höher und höher durch die Etagen des Waldes bis über die Wipfel hinaus. „Der schönste Arbeitsplatz der Welt“, sagt er lachend. Grams ist Professor für Ökophysiologie der Pflanzen an der Technischen Universität München und hat für ein Forschungsprojekt der besonderen Art im Kranzberger Forst bei Freising einen Baukran aufstellen lassen. „Gebraucht“, sagt er, „das reicht für unsere Zwecke.“
Er drückt einen anderen Knopf, und der Ausleger schwingt seitwärts übers Blätterdach. Unter ihm breitet sich nun eine sanft gewellte Landschaft aus wie eine grüne Wolkendecke. Der Buchenbestand ist von Nadelbäumen durchsetzt, die zum Rand hin häufiger werden. Grams steuert einen Fichtenwipfel an, der in dreißig Metern Höhe über die Baumkronen ragt wie ein Weihnachtsbaum, bis er bequem einen Zweig greifen kann. „Man erkennt hier gut“, erklärt er, „dass die Jahrestriebe der letzten fünf Jahre sehr kurz geblieben sind und die Nadeln sehr klein.“ Der Baum war starkem Trockenstress ausgesetzt.
ünf Jahre Dürre, noch länger also als im Rest der Republik, und das in einer vergleichsweise regenreichen Region – wie kann das sein? Der Grund ist am Waldboden zu besichtigen: Hier wurden im Jahr 2013 um die Stämme der Bäume herum Gerüste aufgebaut, die Bierzelten ähneln. „Kranzberg Forest Roof Experiment“ (KROOF) heißt das Projekt, mit dessen Hilfe Forscherinnen und Forscher die Auswirkungen von Dürre auf Fichten und Buchen ergründen wollen. „Im Sommer waren die Dächer geschlossen, im Winter blieben sie offen“, erklärt Grams. „Die Bäume sollten schließlich nicht sterben.“
An den Bäumen und auf dem Boden sind zahllose Instrumente installiert, die messen, was zu messen ist: die Dicke des Stamms, den Wasser- und Saftfluss darin, den Zuckergehalt, die Bodenfeuchtigkeit, das Wurzelwachstum. Alle Werte laufen über abenteuerlich anmutende Kabelstränge in einem alten Bauwagen zusammen, wo sie als Fieberkurven auf Monitoren erscheinen. Das Projekt ist noch nicht abgeschlossen, hat aber bereits Überraschendes ergeben: „Der Trockenstress war für die Bäume in den ersten beiden Jahren am kritischsten“, berichtet Grams. „Danach haben offenbar bereits Anpassungsmechanismen gegriffen.“ Bäume können sich also, wenn sie denn die Dürre überleben, in gewissem Maß mit einer neuen Lage arrangieren, indem sie zum Beispiel das Wachstum ihrer Zweige und damit den Wasserverbrauch reduzieren oder die Wurzeln tiefer ins Erdreich treiben.
Karin Pritsch kniet neben einer Fichte und scharrt ein Loch in den Waldboden. Wo Grams hoch hinaus will, geht die Professorin für Pflanzenpathologie vom Helmholtz-Zentrum München der Sache auf den Grund. „Hier, sehen Sie“, sagt sie und rupft ein paar feine Wurzeln ab, die von einem weißen Geflecht überzogen sind. „Das sind Mykorrhizapilze. Ohne die kann der Baum nicht leben.“
Eine Fichte ist nämlich nicht nur eine Fichte – und eine Buche nicht einfach nur eine Buche. In der Pflanzenkunde setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass Bäume nicht als isolierte Gewächse zu betrachten sind, auf denen vielleicht ein paar Krabbeltiere leben, sondern vielmehr als Teamplayer in einem komplizierten Zusammenspiel zahlloser Organismen. „Besonders deutlich wird es im unterirdischen Teil“, sagt Pritsch. Jede Feinwurzel eines Baumes sei komplett von Pilzen umhüllt, erklärt sie und spreizt die Hand: „Man kann sie sich vorstellen wie Fingerhandschuhe.“ An nur einem Baum könnten mehr als hundert verschiedene Mykorrhizaarten vorkommen, die ganz unterschiedliche Funktionen erfüllten. Einige schützten die Wurzeln mechanisch, andere zum Beispiel vor Trockenheit. „Es gibt Pilzfäden, die eine Größenordnung kleiner sind als die Wurzeln selbst. So können sie in winzige Bodenporen eindringen und dem Baum Wasser und Mineralien zugänglich machen, die für ihn sonst unerreichbar wären.“ Pritsch forscht derzeit mit ihren Doktoranden daran, welchen Einfluss das „Mikrobiom“ in den Böden, also die Gesamtheit des Lebens darin, auf die Dürreresistenz von Buchen und Fichten hat, ob sie etwa in Erde aus Nordbayern anders wachsen als in Erde aus dem Voralpenland.
Im Kranzberger Forst zeigt sich überdies, dass es Bäumen offenbar guttut, wenn sie nicht von ihresgleichen umgeben sind. Buchen zum Beispiel befördern mit ihren tiefer reichenden Wurzeln Wasser in die oberen Bodenschichten, wovon die flach wurzelnden Fichten profitieren könnten, erklärt Thorsten Grams. Fichten wiederum schlössen bei Trockenheit schnell ihre Spaltöffnungen und verbrauchten dann weniger Wasser, was wiederum den Buchen zugute komme. So stützen die Befunde aus dem Kranzberger Forst das Konzept des „Waldumbaus“: Eintönige und krankheitsanfällige Nadelbaumforste, so das forstpolitische Ziel von Bund und Ländern, sollen bundesweit zu Mischwäldern werden.
Aber ob das reicht? Derzeit bleiben im Kranzberger Forst die Bierzeltdächer offen, weil die Forscher beobachten wollen, wie schnell sich die Bäume erholen. Ob anschließend eine künstliche Megadürre ihr Schicksal besiegeln wird, ist noch nicht entschieden. Denn sicher ist: Bleibt der Regen zu lange aus, sterben die Feinwurzeln ab, reißen die Wasserfäden im Stamm, werden geschwächte Bäume schließlich zur leichten Beute von Borkenkäfern und Pilzerkrankungen. Vor allem Fichten gelten unter Ökologen als Todeskandidaten, da sie massenhaft an Standorten gepflanzt wurden, die nicht zu ihrem feuchtkühlen Gebirgsnaturell passen.
Thorsten Grams scheint hin- und hergerissen. Er weist darauf hin, dass Nadelholz für die Industrie derzeit noch unentbehrlich sei und Fichten deshalb auf absehbare Zeit weiterhin gepflanzt würden. Mehr als hundert Millionen Kubikmeter Holz verbrauchen die Deutschen jährlich, rund anderthalb Kubikmeter pro Kopf. Würde der Holzeinschlag hierzulande weniger, sagt Grams, würde womöglich mehr importiert – auch aus Raubbau.
Doch Grams hält es nicht für ausgeschlossen, dass der deutsche Wald bald ein ganz anderer sein wird. Er zeigt ein Lehrbuchdiagramm, auf dem zu sehen ist, bei welchen Temperaturen und Niederschlagsmengen sich in den Regionen der Welt welche Ökosysteme durchsetzen: „Wir liegen in Deutschland klimatisch schon jetzt nahe der Grenze von der Waldgesellschaft zu Buschland und Savanne.“ Mit dem Klimawandel könnte sie überschritten werden.
TREUENBRIETZEN, BRANDENBURG
Tour de Forst
Ein Professor steht im Wald, im Halbkreis um ihn herum lauschen Studentinnen und Studenten aufmerksam seinen Worten. Pierre Ibisch lehrt an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde Naturschutz und hat für einen Kurs mit dem vielsagenden Namen „Diagnostische Ökosystemanalyse“ eine Fahrradexkursion südlich von Potsdam organisiert. Schnell wird klar, dass er das Ökosystem, das die Gruppe an diesem Samstagmorgen als Erstes analysieren soll, als solches nicht für voll nimmt. Es ist ein für Brandenburg „stinknormaler“ Kiefernforst, eine plantagenartige Monokultur also. „Viele private Waldbesitzer können davon noch immer nicht lassen“, sagt er. Die hochstämmigen Bäume sind beinahe gleichaltrig, der Wind pfeift fast ungebremst zwischen ihnen hindurch, der Boden ist mit trockenen Nadeln und Gras bedeckt. Die Diagnose: Biodiversität gering, Wasserhaushalt gestört, Waldbrandgefahr hoch.
Auf Mountainbikes, Rennrädern und rostigen Drahteseln geht es zur nächsten Station, an der Ibisch die Kursteilnehmer in ein junges Laubwäldchen führt: „Sehen Sie, auch Buchen wachsen hier“, erklärt er. „Und die Luft ist gleich drei, vier Grad kühler.“ Kühlung und Wasserspeicherkapazität sind Lieblingsthemen des Biologen, solche Ökosystemleistungen würden im Klimawandel immer wichtiger. Ibisch ist ein Mann mit Mission: Er möchte, dass Wälder nicht wie bisher primär als Holzproduzenten angesehen werden, sondern vielmehr als dynamische natürliche Systeme, die der Mensch nur zurückhaltend nutzen sollte. Einige Forstbetriebe in Deutschland wirtschaften nach solchen Prinzipien, bekannt als ökologische Waldwirtschaft oder Lübecker Modell (Greenpeace Magazin 6.17). Für den Mainstream in der Branche sind Leute wie Ibisch Außenseiter, deren Konzepte den Forstbetrieben ihre ökonomische Basis entzögen.
Trauriger Höhepunkt der Radtour ist ein surreal erscheinendes Areal mit toten Kiefern, deren Stämme schwarz sind. Im Stadtwald der Gemeinde Treuenbrietzen standen vor zwei Jahren mehrere hundert Hektar in Flammen, vermutlich war es Brandstiftung. Die Feuerwehr konnte nicht löschen, weil im brennenden Forst Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg explodierten. Der größte Waldbrand seit Jahrzehnten machte bundesweit Schlagzeilen.
Ibisch konnte den Revierförster für einen Großversuch gewinnen: Auf 28 Hektar blieb nach dem Brand alles sich selbst überlassen. Der Naturschützer ist sich nämlich sicher, dass es für die Regeneration des Ökosytems am besten ist, wenn die abgestorbene Biomasse auf der Fläche bleibt: „Die Stämme beschatten den Boden, kippen irgendwann um, speichern Feuchtigkeit, werden langsam zersetzt und geben über viele Jahre ihre Nährstoffe frei.“
Das Leben kehrt in erstaunlichem Tempo zurück: Zwei Jahre nach dem Waldbrand stehen sattgrüne Bäumchen bereits mannshoch zwischen den verkohlten Kiefernleichen – ganz ohne menschliches Zutun. „Zitterpappeln,“ erklärt Ibisch, „der Wind hat ihre Samen hierhergeweht.“ Er sei selbst überrascht gewesen, wie schnell und in wie großer Zahl sich die Pionierbäume eingefunden hätten – denen die Förster allerdings nicht viel abgewinnen können. Wie könnte es hier weitergehen? Ein junger Forstwirtschaftsstudent meldet sich: „Die Pappeln werden wahrscheinlich noch etwas wachsen, dann könnten sich in ihrem Schatten andere Laubbäume etablieren und schließlich durch natürliche Sukzession ein Buchenmischwald entstehen.“
Pierre Ibisch lächelt zufrieden.
AUSBLICK
Lieber Wald, was nun?
Wer im Sommer 2020 durch Deutschland reist, wird vielerorts hässliche braune Flecken im Grün entdecken, meist tote Fichten. Auch erst einmal gesund erscheinende Wälder geben oft ein trauriges Bild ab, sobald man beim Spaziergang den Blick in die Wipfel richtet: Jede zweite Buche oder Eiche zeigt laut offizieller Zählung eine „deutliche Kronenverlichtung“. Hinzu kommen riesige Flächen, die bereits von Waldarbeitern geräumt wurden, um die Ausbreitung des Borkenkäfers zu stoppen, Kahlschläge, die es in Deutschland eigentlich gar nicht mehr geben sollte. Rund 2450 Quadratkilometer Land müssen laut Forstministerium „wiederbewaldet“ werden, das entspricht der vierfachen Fläche des Bodensees.
Der Bund stellt für dieses Mammutprojekt eine halbe Milliarde Euro bereit, Klöcknermillionen genannt, die Länder steuern weitere 300 Millionen bei. Um Fördergelder zu erhalten, müssen die Flächen geräumt und junge Bäume gesetzt werden. Pierre Ibisch findet das unsinnig. Er warnt davor, mit übereilten Pflanzaktionen viel Geld zu verbrennen. Auf der letzten Station seiner Fahrradexkursion zeigt er seinen Studenten eine umgepflügte Waldbrandfläche, auf der zahllose Kiefernsetzlinge im trockenen Frühjahr 2020 bereits wieder verdorrt sind.
Wie wird der Wald der Zukunft denn nun aussehen? Kein Experte vermag es zu sagen. Voraussichtlich, an diesen Gedanken werden wir uns gewöhnen müssen, werden Mitteleuropas Wälder weniger üppig sein, das Kronendach offener, die Holzproduktion geringer. Welche Baumarten sich am Ende durchsetzen, weil sie mit Extremwetter und globalisierten Krankheiten langfristig am besten zurechtkommen, ist völlig ungewiss.
Das Zauberwort lautet Vielfalt. Wie in einem Aktiendepot, heißt es, verspreche sie auch in artenreichen Wäldern mehr Sicherheit, wenn etwas schiefgeht. Auch die Vielfalt der Nutzung – oder Nichtnutzung – wird zunehmen. Manch Privatwaldbesitzer setzt weiter auf Risiko und pflanzt Nadelholzmonokulturen. Doch durch das aktuelle Fichtensterben wird der Waldumbau hin zu Mischwäldern beschleunigt. Zudem sollen fünf Prozent der deutschen Waldfläche wieder Wildnis werden.
Es lohnt sich, einem klugen Praktiker wie Jürgen Bucher über die Schulter zu schauen. Der Revierförster vom Schönberg bei Freiburg macht im Kleinen vor, worauf es im Großen wohl hinauslaufen wird. Er fördert hier die Buche, pflanzt dort robustere heimische Arten wie Eiche oder Ahorn, streut vereinzelt lukrative Douglasien ein. Allerdings hat er seiner Arbeitgeberin, der Gemeinde Ebringen, erfolgreich verklickert, dass sie von ihm keine Gewinne erwarten soll. „Die sind froh über eine schwarze Null.“
Und zwanzig Prozent des Waldes nutze er „gar nimmer“, sagt Bucher. „Die überlasse ich ganz der Natur.“ Auch die toten Buchen an der Schneeburg dürfen stehen bleiben, bis ein Sturm sie umlegt. Heerscharen von Insekten und Pilzen machen sich über sie her – und sorgen dafür, dass das Leben weitergeht.
Was unser Autor Wolfgang Hassenstein alles auf sich nehmen musste, um diesen Artikel zu recherchieren, lesen Sie im Making Of. Weitere Geschichten zum Thema Wald finden Sie in der Ausgabe des Greenpeace Magazins 5.20 „Waldleben“. Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!