Versiegelung und Autoverkehr belasten die Bevölkerung. Wie ein gutes urbanes Leben aussehen könnte, wird derzeit an Orten wie Nürnberg erdacht und ausprobiert.

Nürnberg im Sommer 2035: In der kopfsteingepflasterten Innenstadt halten sich seit Wochen Hitzeinseln mit über 45 Grad Tagestemperatur. Der Volkspark im Norden ist vertrocknet, im Wöhrder See, der ebenfalls mitten in der Stadt liegt, sterben die Fische. Weil Abkühlungsräume fehlen, verschanzen sich die Bewohnerinnen und Bewohner in ihren Wohnungen. Die Stadtverwaltung ist in die mittelalterlichen Felsengänge unter der Erde gezogen. Rettungsautos holen alte und kranke Menschen ab, andere vereinsamen, Panik breitet sich aus. Wer es sich leisten kann, verlässt Nürnberg.

Das wissenschaftlich fundierte Szenario ist Teil des Projekts „Was wäre, wenn…? Eine Stadt probt ihren Untergang“. Im Frühjahr 2023 machte das Kollektiv „Urban Lab“ die Klimakrise in der Stadt erlebbar. Auf dem Nürnberger Klarissenplatz stellten die Stadtentwickler Container und Schautafeln auf. Mit fiktiven Tagebucheinträgen, einem Radiohörspiel und einer beengten, hitzeangepassten Wohnung zum Probewohnen simulierten sie eine mögliche Zukunft im Jahr 2035.

Das Szenario ist nicht aus der Luft gegriffen. Tatsächlich wird es in der fränkischen Metropole immer heißer. Die Beckenlage und die dichte Bebauung in der ehemaligen Industriestadt machen Nürnberg besonders anfällig für Hitzewellen. An vierzehn Tagen im Jahr kletterte die Lufttemperatur zuletzt auf mehr als dreißig Grad – das sind doppelt so viele wie im Durchschnitt der Jahre 1961 bis 1990. Besonders betroffen sind die stark versiegelte Südstadt und die mittelalterliche Altstadt: Am Jakobsplatz im Zentrum gab es 2022 sogar 43 solcher Tropentage.

Der Klimawandel treibt nicht nur Nürnberg um. Städte sind aufgrund ihrer dichten Bebauung besonders stark von den Folgen der Erderhitzung betroffen. Viele Kommunen haben das erkannt: Sie formulieren Hitzeschutz- und Klimawandelaktionspläne, stellen Klimaanpassungsmanagerinnen ein und fördern Fassadenbegrünung und Solardächer. Und sie vernetzen sich, um voneinander zu lernen: 45 Großstädte und 24 mittlere Städte haben sich dem Gesunde-Städte-Netzwerk Deutschland angeschlossen. Die Initiative setzt sich dafür ein, Gesundheitsförderung in allen Politikfeldern mitzudenken – vom Bauamt bis zur Bildungspolitik. Doch längst nicht alle Städte haben sich auf den Weg gemacht: Einer Recherche von Correctiv und ARD-Sendern zufolge haben nur ein Viertel der Kommunen ein Schutzkonzept für die Klimakrise.

<p>STEP BY STEP Neu errichten lässt sich Nürnberg nicht. Deshalb muss die Transformation Schritt für Schritt gelingen</p>

STEP BY STEP Neu errichten lässt sich Nürnberg nicht. Deshalb muss die Transformation Schritt für Schritt gelingen

Doch wie sieht eine Stadt überhaupt aus, die die Gesundheit ihrer Bewohnerinnen und Bewohner in den Mittelpunkt rückt? Susanne Moebus, Leiterin des Instituts für Public Urban Health des Universitätsklinikums Essen, räumt gleich mit einem großen Vorurteil auf: „Es stimmt nicht, dass Landmenschen automatisch gesünder sind als Städter.“ Im Gegenteil: Statistisch leben Menschen in der Stadt sogar länger als auf dem Land. Selbst wenn man soziale und demografische Faktoren wie Einkommen, Ausbildungsgrad oder Alter rausrechne, halte die Stadt viele gesundheitliche Ressourcen bereit: nahe Freizeit- und Kulturmöglichkeiten, größere Anreize zur Alltagsmobilität zu Fuß oder auf dem Rad, bessere medizinische Versorgung. „Stadtbewohner haben größere Chancen, körperlich aktiv zu sein – und sind damit gesünder als Landmenschen.“

Frischluftschneisen für die Innenstadt

Versiegelte Quartiere, Betonwüsten und autogerechte Großstädte – das sind in Zeiten steigender Temperaturen jedoch keine angenehmen Aufenthaltsorte. Stadtplanerinnen träumen lieber von möglichst viel „blau-grüner Infrastruktur“ in der Stadt. Darunter verstehen sie ein System aus Grünflächen, Parks und Bäumen, die die Luft filtern und Schatten spenden. Ergänzt werden sie von Flüssen, Teichen und Wasserflächen, die bei Starkregen Wasser aufnehmen und bei Hitze Verdunstungskälte produzieren. Die Idee: Zieht sich ein solches grün-blaues Netz als Frischluftschneise durch die Stadt, wirkt es wie eine natürliche Klimaanlage – und steigert ganz nebenbei die Aufenthaltsqualität.

Auch Nürnberg ist dabei, immer mehr Blau und Grün in die Stadt zu holen. Die Stadt hat dabei einiges aufzuholen: Durch die mittelalterliche Prägung und die Industrievergangenheit ist der Großteil der Stadt versiegelt, lediglich ein bis zwei Prozent der Fläche bestehen aus Wasser. „Nürnberg klimaresilient zu machen, ist der größte Umbau der Stadt seit der Nachkriegszeit“, sagt Britta Walthelm, Referentin für Umwelt und Gesundheit. Und dann rattert sie eine ganze Liste an Maßnahmen runter, die die Verwaltung seit 2009 bereits umgesetzt hat: Förderprogramme für die Dach- und Fassadenbegrünung, ein Brunnenkataster, ÖPNV-Ausbau, E-Busse. Bald soll sich außerdem eine „Grüne Meile“ durch die Südstadt ziehen.

Den Stadtentwicklern aus dem Urban Lab geht der Umbau von Nürnberg dennoch zu langsam. Sie wollen ihre Stadt von unten mitgestalten. In einen Briefkasten können Interessierte Ideen für Lösungen einwerfen, in einer Sprechstunde Projektskizzen schildern. Elf davon wurden mit Unterstützung der Initiative „Nationale Stadtentwicklungspolitik“ bereits umgesetzt, etwa ein umweltfreundliches Bewässerungsmobil für Nürnbergs Bäume. Im Sommer können sich alle kostenlos einen Fahrradanhänger mit Wassertanks ausleihen, um ihn an ihr Fahrrad zu koppeln und vertrocknete Stadtbäume zu gießen. Ein anderes Team entwickelte eine sogenannte Klimafaktorenkarte: Auf einer frei zugänglichen Website werden Wärmeinseln in der Stadt visualisiert und kühle Orte wie Kirchen, Museen oder U-Bahnhöfe markiert.

Auch Jonas und Niklas Götz haben mit ihrer Projektidee überzeugt. Auf dem zubetonierten Campus der Universität Nürnberg-Erlangen in der nördlichen Altstadt setzen die Brüder einen biodiversen, klimaresilienten Experimentiergarten um. Sie wollen herausfinden: Welche Pflanzen trotzen den veränderten klimatischen Bedingungen besonders gut? Mit der Förderung konnten die Brüder die Materialkosten decken, nun haben sie in wochenlanger, unbezahlter Arbeit mit ehrenamtlichen Helfern eine wilde Landschaft aus jungen Bäumen, Hölzern und Sträuchern angelegt. „Da drüben wird es 2035 brummen und summen“, schwärmt der Land- und Baumaschinenmechatroniker Jonas Götz. In den Reptilienmeiler, eine Anhäufung von Steinen, sollen Eidechsen einziehen, in der Naschecke dürfen Studierende Maulbeeren, Quitten und Mispeln naschen.

<p>IM WANDEL Julia Hendrysiak und Ulrich Hirschmüller vom „Urban Lab“ wollen ihre Stadt gesünder machen</p>

IM WANDEL Julia Hendrysiak und Ulrich Hirschmüller vom „Urban Lab“ wollen ihre Stadt gesünder machen

Besonders gespannt sind die Brüder auf ihren Experimentierwald. 76 Arten und mehr als 350 verschiedene Pflanzen haben sie auf wenigen Quadratmetern angepflanzt: Kalifornischen Lorbeer, Südafrikanischen Flussginster, Anden-Scheinbuche, Milchorangenbaum, Gummiulme. Noch sind sie nicht mal kniehoch, das soll sich aber bald ändern. „Welchem Baum es hier gefällt, wird sich erst zeigen“, sagt Landschaftsgärtner Niklas Götz. „Ich bin aber überzeugt, dass uns nur das Experiment in der Klimakrise weiterbringen wird.“ Ursprünglich wollten die beiden einen städtischen Park bepflanzen, doch die Stadtverwaltung wagte das Experiment nicht – aus Sicherheits- und Haftungsgründen. Nach langer Suche sagte schließlich die Universität zu.

Mehr mutige Menschen gesucht

Die Gesundheitsexpertin Heike Köckler von der Hochschule für Gesundheit in Bochum kennt solche ernüchternden Erfahrungen bei partizipativen Stadtentwicklungsprojekten nur zu gut. „Die Menschen in den Stadtverwaltungen sind hochqualifiziert, manchmal aber angstgesteuert und setzen Rechtssicherheit über alles“, sagt sie. „Ich wünsche mir mehr mutige Menschen, die Ermessensspielräume kennen und Experimente erlauben.“ Nur so könne man strukturierte Weiterentwicklung ermöglichen.

Begrünung ist ein wichtiges Element auf diesem Weg. Eine Studie der TU München zeigte, dass Bäume den Asphalt unter ihren Kronen um bis zu zwanzig Grad Celsius abkühlen können, die Luft in ihrer Umgebung um bis zu zwei Grad. Die Winterlinde, ein besonders beliebter Stadtbaum, erreiche so eine Kühlleistung von bis zu 2,3 Kilowatt – vergleichbar mit der Klimaanlage für einen Raum. Selbst junge Bäume, die noch wenig Schatten spenden, entfalten schon eine große Wirkung: Weil sie bei der Fotosynthese Wasser verdampfen, kühlen auch sie ihre Umgebung ab. Auf diese Weise haben selbst begrünte Dächer, Fassaden, Litfaßsäulen und Blumenkübel einen positiven Effekt auf das Mikroklima einer Stadt.

Darüber hinaus wirkt sich das Stadtgrün positiv auf die Psyche aus: In „grünen“ Stadtvierteln verschreiben Ärzte deutlich weniger Antidepressiva als in baumlosen Wohngebieten, zeigte eine Studie der Universität Jena. Auch hier muss es nicht immer gleich ein Stadtpark vor der Haustür sein – selbst ein wenig Efeu an der Fassade tut der Seele schon gut. „Solche Effekte müssen Stadtplanern bewusst sein“, betont Susanne Moebus.

<p>GRÜNE UNI Erste Fortschritte werden in der Stadt durch Pflanzen und an der Universität sichtbar</p>

GRÜNE UNI Erste Fortschritte werden in der Stadt durch Pflanzen und an der Universität sichtbar

Doch Parks, Bäume und Wasser reichen nicht aus, damit Menschen gesund alt werden. Häufig werde die akustische Qualität von Stadträumen unterschätzt, bemängelt die Public-Health-Expertin Moebus. In einem Forschungsprojekt untersuchte ihr Institut, welchen Einfluss Lärm und Geräusche auf die Gesundheit haben. Die Forschenden luden Stadtbewohnerinnen und -bewohner zu sogenannten Hörspaziergängen ein. An festgelegten Orten in Essen – Straßenkreuzungen, Parks oder Busstationen – sollten die Teilnehmenden anhalten, um genau hinzuhören. Danach mussten sie beurteilen, welche Geräusche sie als positiv oder negativ wahrnehmen.

Die Forschenden fanden heraus, dass sich Menschen in einer grünen Umgebung subjektiv weniger stark von Straßenlärm belästigt fühlen. Was sie hingegen erschreckte: Die akustische Bandbreite einer Stadt – vom Blätterrascheln über Gesprächsfetzen bis hin zum Moped – werde kaum mehr wahrgenommen. Stattdessen nur noch: Lärm. „Stadtmenschen haben verlernt, Zwischentöne zu hören“, so Moebus. Sie seien „hörblind“ geworden.

Besonders laut und schadstoffbelastet sind jene Stadtteile, in denen ärmere Bevölkerungsgruppen leben. Heike Köckler von der Hochschule für Gesundheit in Bochum setzt sich mit Fragen der umweltbezogenen Gerechtigkeit auseinander. Ihre Studierenden lädt sie regelmäßig zu sogenannten Klingelschild-Analysen in stark verdichteten Quartieren ein: An sechsspurigen Straßen, an denen Autos vorbeirasen, wohnen in unsanierten Häusern vor allem Menschen mit Migrationshintergrund oder Arbeitslose. Der Wohnort verstärkt bestehende Ungerechtigkeiten: Nicht nur der Lärm macht krank, hinzu kommen Schadstoffe und Hitzebelastung in den stark verdichteten Quartieren. Während sich ein schwüler Sommertag im Garten der Stadtvilla gut aushalten lässt, kann es in der unsanierten Sozialwohnung ganz schön stickig werden. Umso wichtiger ist es, dass es auch in stark verdichteten Vierteln grüne, kühle und vor allem kostenlose Aufenthaltsorte für alle gibt.

Gesundheitslotsen für Brennpunkte

Dass Menschen mit weniger Geld häufiger unter ungesunden Lebensbedingungen leiden, war auch Thema beim Kongress „Armut und Gesundheit“ im März in Berlin. Expertinnen, Betroffene und Politiker diskutierten über Hitzeschutz für wohnungslose Menschen und Gesundheitsvorsorge für Menschen mit Migrationshintergrund. Klima- und Gesundheitsschutz zusammenzudenken, sei eine soziale Aufgabe, so Heike Köckler. Die Kommunalpolitik müsse bei Lärmschutzmaßnahmen, Begrünungen oder Entsiegelungen künftig vor allem mehrfachbelastete Quartiere priorisieren. Genauso wichtig: „Statt sozialen Wohnungsbau als Lärmriegel an laute Straßen zu setzen, könnte man Sozialwohnungen in grünen, weniger belasteten Gebieten ausweisen.“

Neben umweltgerechtem Wohnungsbau ist auch niedrigschwellige Gesundheitsförderung möglich. In Frankfurt setzt man auf mehrsprachige Gesundheitslotsen: Ehrenamtlich engagierte junge Menschen werden vom Gesundheitsamt ausgebildet und beantworten in Stadtteileinrichtungen, Mehrgenerationenhäusern oder Moscheevereinen Fragen zu Bewegung, Ernährung oder Zahngesundheit. Demnächst sollen die Lotsen auch zur Klimakrise weitergebildet werden, erzählt Anette Christ aus dem Gesundheitsamt, um besser zu Hitze und Extremwettereignissen beraten zu können.

Wie aktiv Stadtbewohner in ihrem Alltag sind, hängt aber auch von der Fußgängerfreundlichkeit ihrer Umgebung ab. Die lässt sich anhand des sogenannten Walkability-Index des Dortmunder Instituts für Landes- und Stadtentwicklungsforschung messen. Sechs Kriterien liegen dem Index zugrunde: Am wichtigsten sind Begehbarkeit und Zugänglichkeit, es folgen Sicherheit und Durchlässigkeit, zuletzt Komfort und Unterhaltung. Städte sind demnach fußgängerfreundlicher, wenn es überhaupt Fußwege gibt – und Supermärkte, Arztpraxen und Schulen in fußläufiger Entfernung liegen. Sechzehn deutsche Metropolen hat das Forschungsteam bewertet: Spitzenreiter in dem Ranking ist das kompakte, von Grünanlagen durchzogene Frankfurt. Am schlechtesten schnitt das autofreundliche Dortmund ab.

Überhaupt, das Auto. Es ist der größte Zankapfel auf dem Weg zur sauberen, leiseren und gesünderen Stadt. Klar ist: Je mehr Autos aus der Stadt verschwinden, desto mehr Platz gibt es für Bäume, Bierbänke, Straßenbahnen und Spielplätze. Noch aber sind die meisten deutschen Städte zögerlich mit Fahrverboten, City-Maut-Konzepten oder Tempo-30-Zonen.

Andere Länder sind damit schon weiter: Barcelona experimentiert mit sogenannten „Superilles“. Dabei werden mehrere Häuserblocks zu einem Superblock zusammengefasst. Nur Anwohner und Lieferfahrzeuge haben Zugang mit dem Auto, sie dürfen maximal zehn Stundenkilometer fahren. Auch Amsterdam verwandelte Parkplätze in Freiluftbereiche für die lokale Gastronomie – und macht Autofahren immer unattraktiver.

In Nürnberg konkurriert Stadtgrün ebenfalls mit Autos um freie Flächen. Immer öfter gewinnen die Bäume: Eine karge Schotterfläche in der Altstadt, die früher als Parkplatz genutzt wurde, hat die Stadt vor einigen Jahren in einen 240 Quadratmeter großen „Pocket Park“ verwandelt. Dank japanischem Schnurbaum und verschiedenen Sträuchern ist eine kleine Kühlinsel mitten in der versiegelten Altstadt entstanden. Hier können sich überhitzte Städter im Sommer abkühlen. Hoffentlich auch noch 2035.

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe 4.24 "Mut". Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!

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