Vielleicht ist es doch keine so gute Idee gewesen, nach Alberta zu fahren, ins Herz der kanadischen Ölindustrie. „Warum gehst du nicht nach China oder Saudi-Arabien, statt hier unser umweltfreundliches Öl zu kritisieren?“, fragt der kanadische Reporter, als er Greta Thunberg im Hotelflur abfängt. Man könnte auch sagen: bedrängt. Dann, an den Vater Svante Thunberg gerichtet: „Finden Sie es okay, eine psychisch kranke 16-Jährige auf eine Fahrt durch das Land zu zwingen?“ Die Stimmung schwankt zwischen Aggression und Amüsement. Greta lacht auf, stellt klar, dass Autismus keine Krankheit sei. Die versteckte Kamera des Reporters schwenkt zum Vater, der gerade in eine Banane beißt und genüsslich kaut. „Eigentlich habe ich ihn gezwungen“, sagt Greta. Und der Tesla, mit dem sie unterwegs waren – auch nach dem fragt Keean Bexte vom stramm rechten und von der Ölindustrie mitfinanzierten Internetsender „Rebel News“ –, den habe Arnold Schwarzenegger ihnen geliehen. Als Bexte ihr schließlich vorwirft, das Gerede um den Klimawandel sei doch nur das politische Projekt grüner Kapitalisten, widerspricht Greta nüchtern: „Nein, er ist eine wissenschaftliche Tatsache.“ Und dreht ihm den Rücken zu.
Es war der seltene direkte Zusammenprall zweier Welten, dokumentiert in einem knapp zehnminütigen verwackelten Smartphone-Video, das so richtig nach Enthüllung à la „Die Wahrheit hinter Greta“ aussehen sollte. Letztlich präsentierte Reporter Bexte aber eher eine junge Frau, die sich gegen ihn, der wie ein Stalker auftrat, behauptete. Im Prinzip standen sich in der Provinzhauptstadt Edmonton an diesem Oktobertag des Jahres 2019 nicht nur Greta Thunberg und Keean Bexte gegenüber, sondern die junge, von Wissenschaft und Moral befeuerte Klimaschutzbewegung auf der einen Seite – und das von Millionen Petrodollars gestützte System aus Desinformationskampagnen, Lobbyismus und politischer Macht auf der anderen. 150.000 Arbeitsplätze hängen im ultrakonservativ regierten Alberta an einer Industrie, die ihren Rohstoff aus Teersand gewinnt, in einem schmutzigen Verfahren mit pechschwarzem ökologischem Fußabdruck.
Die Öllobby hat viel Rückhalt in der Bevölkerung. Während des Klimastreiks vor dem Parlament bildeten Tanklaster und Trucks der Pro-Öl-Protestgruppe „United We Roll For Canada“ einen Konvoi durch die Stadt, ihr Hupen sollte die Rufe der Aktivisten und Indigenen vor dem Parlament übertönen. Ein Mann beschmierte das überlebensgroße Greta-Wandgemälde eines Künstlers und erklärte der lokalen Presse: „Dies ist Ölland. Wir brauchen keine Ausländer, die uns sagen, wie wir unsere Familien ernähren sollen.“ Später tauchte ein Aufkleber mit dem Logo der Ölfirma X-Site auf, darauf zwei Hände, die Gretas Zöpfe packen – eine Vergewaltigungsdrohung. Mehrmals musste Greta Thunberg während ihres Besuches um Polizeischutz bitten, weil ihr Gegendemonstranten zu nahe kamen.
„Zum ersten Mal wollte mir jemand von einem Besuch abraten“, erzählt die Aktivistin rückblickend im schwedischen Radio. In dem persönlichen Beitrag berichtet sie auch von ihrer berühmten, ungewohnt emotionalen „How dare you?“-Rede in New York, die sie wenige Wochen vor ihrem Kanada-Abstecher gehalten hatte. Und sie beschreibt, wie sie während ihrer Amerikareise durchs Autofenster die endlosen Kohlezüge in Nebraska und Montana sah, die Ölfördertürme in Colorado und Kalifornien und immer wieder Plakate der allgegenwärtigen Anti-Abtreibungs-, Anti-Evolutions- und Anti-Wissenschaftskampagnen. Nachts zogen die Lichter der Öl-Raffinerien vorbei. In North und South Dakota demonstrierte Greta Thunberg mit den Sioux-Ureinwohnern gegen eine Pipeline. Zum Dank nannten sie die Menschen dort „die Frau, die aus dem Himmel kam“. Beinahe schon routiniert nutzt sie bei solchen Auftritten ihre Prominenz, um die mediale Aufmerksamkeit auf Themen zu lenken, die ihr wichtig sind. Stets tritt sie hinter den Aktivistinnen und Aktivisten vor Ort zurück, überlässt ihnen die Bühne. Oder der Wissenschaft. In Washington druckte sie den aktuellen Bericht des Weltklimarates IPCC aus und schob ihn bei einer Anhörung den verblüfften Kongressabgeordneten zu: „Ich möchte, dass ihr nicht mir, sondern den Wissenschaftlern zuhört.“
Weniger gut kann sie damit umgehen, wenn sie mal wieder hofiert wird. Wenn ein Polit-Superstar wie Barack Obama sie mit einem Faustcheck begrüßt („Du und ich, wir spielen im selben Team“) oder eine Kanzlerin Angela Merkel sie am Rande der New Yorker UN-Konferenz gar um ein gemeinsames Selfie bittet, dann wirkt sie, als könne sie nicht glauben, welcher Wirbel um ihre Person gemacht wird. Und auch nicht, dass die weltweite Klimaschutzbewegung und selbst große Teile der Klimaforschung ihre Hoffnungen auf eine nicht besonders große junge Frau aus Schweden projizieren.
Politiker und Stars achten auf ihre Haltung, wenn sie mit ihr posieren, Greta lässt das unbeeindruckt. Sie steht, wie sie eben gerade steht, lächelt nicht, schaut oft am Gegenüber vorbei, wenn sie spricht. Und sie wiederholt ihre Botschaft. Was angeblich für die Lüge gilt – man müsse sie nur oft genug wiederholen, damit sie geglaubt wird –, wendet sie auf die Wahrheit an. Greta benennt immer wieder die Fakten, in ihren Reden ändert sie mit der Zeit nur Nuancen. Es geht darin nicht vorrangig um Temperaturanstiege, CO2-Konzentrationen und Klimakatastrophen. Es geht um Zeit. Rund siebeneinhalb Jahre habe die Menschheit noch, dann werde das 1,5-Grad-Ziel von Paris überschritten – wenn sie so weitermache. „Erinnern Sie sich an die Olympischen Spiele in London, den Gangnam-Style oder den ersten Hunger-Games-Film? All das ist sieben oder acht Jahre her, und so lange haben wir bestenfalls noch“, erklärte Thunberg in einer Ansprache.
„Als ich das in ihrer Rede las, fand ich, dass sie damit den entscheidenden Punkt trifft“, erinnert sich Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Greta schickt Forschern wie ihm ihre Texte und Reden zum Gegenlesen. Mit der Idee eines zeitlich beschränkten CO2-Budgets hatte man bis dato noch kaum öffentlich argumentiert. „Ein Grund, warum die Klima- und Umweltkrise so schwer zu den Menschen durchdringt, ist, dass es kein magisches Datum gibt, an dem alles nicht mehr zu retten ist“, erklärte Greta in einem Radiobeitrag. Also sagt sie, wo die Deadline liegt. Immer wieder. Und die Uhr tickt.
„Klimaleugnern, die Falschinformationen streuen, ist das nicht zu vermitteln“, sagt Rahmstorf, der sich wie kein anderer deutscher Forscher mit ihnen auseinandersetzt und ihre Thesen auf seinem Blog „Klimalounge“ widerlegt. Das seien nicht immer vereinzelte Spinner. „Dahinter verbergen sich oft Thinktanks, die gezielt Desinformation verbreiten.“ Zu ihnen zählen etwa das pseudowissenschaftliche Europäische Institut für Klima und Energie (EIKE) und sein amerikanisches Pendant, das Heartland Institute. Gemeinsam mit sogenannten alternativen Medien wie „Rebel News“, die wiederum mit Lobbyverbänden der Energiewirtschaft in Verbindung stehen, setzen sie wilde Mythen in die Welt. Ihre Idee von der „Greta-Verschwörung“ wirkt bis in die Politik hinein: Greta, die PR-Marionette, das ausgebeutete Kind mit mentaler Störung, Greta, die Investoren locken und ihre Eltern reich machen soll, Greta, die an unserem Wohlstand rüttelt und die Lüge vom Klima verbreitet.
Besonders große Schwierigkeiten mit dem Phänomen Greta scheinen konservative Medienmänner zu haben. Stimmen wie der Publizist Gabor Steingart, 58 („Thunbergs Lieblingsworte: Feuer, Panik, Betrug“), der Kabarettist Dieter Nuhr, 59 („Liebe nachfolgende Generationen, wenn ihr jemanden verklagen wollt, versucht es auch mal in China oder Indien“), „Welt“-Herausgeber Stefan Aust, 74 („Eine beinahe religiöse Erweckungsgemeinschaft mit einer jungen Schwedin an der Spitze“) oder „Welt“-Chefredakteur Ulf Poschardt, 53 („Wer ‚how dare you?‘ sagt, muss mit einem ‚f*** you‘ als Antwort rechnen“) arbeiten sich an Greta Thunberg ab, während die Wirklichkeit des Klimawandels die Mission der jungen Schwedin immer deutlicher bestätigt.
Tausendfacher Hass und Drohungen
Eine zentrale Rolle im Mythos vom fremdbestimmten, naiven Mädchen spielt Ingmar Rentzhog. Der schwedische Umweltaktivist, Unternehmer und PR-Berater gilt als „Greta-Entdecker“. Er sprach mit ihr bei ihrem ersten, noch einsamen Streik 2018 vor dem Stockholmer Parlament und veröffentlichte kurz darauf ein Unterstützungsvideo und ein Foto auf Facebook. Seine Aufnahme von Greta mit ihrem Schild wurde zur Ikone. Rentzhog trat öffentlich mit ihr auf, half ihr mit seinen Kontakten. Manchen schien das einfach zu gut zusammenzupassen: Da taucht zufällig ein Geschäftsmann mit zurückgegeltem Haar, Hornbrille und Slim-Fit-Anzug auf, der zufällig gerade „We Don’t Have Time“ gegründet hat – ein soziales Netzwerk, auf dem sich grüne Unternehmer vernetzen können – und trifft ebenso zufällig auf die perfekte PR-Fantasie in Gestalt einer kleinen Klimakämpferin. Kurz war Greta sogar Jugendbotschafterin seines Start-ups. Und so war schnell die Lüge in der Welt, sie sei nur eine PR-Figur, mit deren Hilfe der Umsturz zum grünen Kapitalismus eingeleitet werden solle, um Eliten im Hintergrund reich zu machen. Als der schwedische Journalist Andreas Hendriksson die angeblichen Indizien dafür in einem Facebookpost zusammentrug, wurden Rentzhog und Thunberg bedroht und bekamen täglich Tausende Hassnachrichten und Anrufe.
Am Telefon bittet Ingmar Rentzhog, zur App „Signal“ zu wechseln, über die man verschlüsselt sprechen kann. Zuletzt habe im Mai jemand die Kontrolle über sein Smartphone übernommen, Nachrichten öffneten und schlossen sich wie von Geisterhand. Im Serverraum seiner Firma habe er ein Gerät gefunden, das Daten abfing.
Gegner wollen nur eins: Zeit schinden
„Als das Ganze losging, war ich schon beunruhigt“, sagt Rentzhog, Vater dreier Kinder, „aber ich gewöhnte mich komischerweise daran. Die Hassnachrichten haben zwar abgenommen, doch die Verschwörungstheoretiker suchen immer noch Indizien, die sie für neue Märchen nutzen können.“ Rentzhog sieht darin sogar etwas Gutes: Die intensiven Bemühungen der Klimawandelleugner und Gretahasser zeigten doch, dass sie den Kampf um die Wahrheit längst verloren haben. Es gehe ihnen nur noch darum, Zeit zu schinden, um die fossile Wirtschaft möglichst lange am Laufen zu halten. „Wir dürfen diese Zeit nicht damit verschwenden, ihre kruden Theorien zu entkräften und die Hinterleute zu suchen“, sagt Rentzhog, „sonst lebt man wie in einer dunklen Wolke, fühlt sich überall verfolgt. Das frisst alle Energie.“ Dass er kaum noch Kontakt zu Greta Thunberg hat und sie beschlossen hat, unabhängig von Organisationen – auch von seiner – zu arbeiten, begrüßt Rentzhog: „Das ist klug. Es ist wichtig, dass sie ihren eigenen Weg geht.“
Und ihre Familie geht mit. Vater Svante pflegt den Facebookauftritt, kümmert sich um Medienanfragen und begleitet Greta. Er, Musikproduzent mit zwei Labels, und Mutter Malena Ernman, eine bekannte Opernsängerin, treten beruflich kürzer. „Meine beiden Töchter bedeuten mir alles. Sie sollen glücklich sein – und Greta ist glücklich mit dem, was sie tut“, sagte Svante Thunberg im Interview mit der schwedischen Zeitung „Expressen“. Deswegen perlt der Vorwurf an ihm ab, er und Malena würden ihr „krankes“ Kind ausnutzen. Ihr Autismus, schreibt Greta, schärfe ihren Blick fürs Wesentliche, habe sie wie besessen alles über den Klimawandel lesen lassen, bis sie berühmte Klimatologen wie Kevin Anderson, Forscher an der Universität Uppsala und Freund der Familie Thunberg-Ernman, mit ihrem Wissen beeindruckte. Sie nennt es selbst ihre „Superkraft“. Greta denkt rational, deshalb gebe es für sie in Sachen Klima nur Schwarz und Weiß: Entweder man handelt nach der Wissenschaft oder nicht. Dieser klare Blick helfe ihr auch, den Hass auszublenden und die Debatte unerbittlich immer wieder zur Klimakrise zurückzuführen. „Wenn sie mich persönlich angreifen, heißt das, dass sie sonst nichts haben.“
Am 20. August, zehn Monate nach ihrer unangenehmen Begegnung in Alberta, sitzt Greta Thunberg im Zug nach Berlin. Die Coronakrise hat die Klimabewegung ausgebremst, die vor allem vom Protest auf den Straßen lebt. Also muss es anders gehen: Gemeinsam unter anderem mit Luisa Neubauer, dem deutschen Gesicht der „Fridays for Future“-Bewegung, hat sie einen offenen Brief an die EU gerichtet. Sie und 124.000 Unterzeichner aus fünfzig Ländern fordern, den CO2-Ausstoß viel schneller zu senken und sämtliche Subventionen für fossile Brennstoffe zu stoppen. „Die Einführung einer Öko-Diktatur“ wäre das, sagt Andreas Freytag, 59, ehemaliger Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft und Kolumnist bei der Wirtschaftswoche. Angela Merkel sieht das nicht so und lädt die beiden zum Gespräch ins Kanzleramt.
Luisa Neubauer holt Greta mit dem Rennrad vom Bahnhof ab. Wären da nicht Dutzende Journalisten, die sie den ganzen Weg entlang umschwärmen, wäre da nicht ihr tätowierter Bodyguard – es sähe aus wie ein Spaziergang von Freundinnen. Merkel empfängt die jungen Frauen an diesem heißen Sommertag wie Staatsgäste, sie sprechen über einen langen Tisch hinweg in zehn Metern Abstand. Getränke werden gereicht. Greta, die ihren rosa Pullover um die Hüfte gebunden hat, stellt ihre eigene rote Trinkflasche auf den Tisch. Am Ende gewinnen die Aktivistinnen Aufmerksamkeit, Merkel ein paar gute PR-Bilder. Hinterher resümiert Greta: „Wir befinden uns in einem Teufelskreis: Bevölkerung, Politiker und Wirtschaft schieben sich die Verantwortung gegenseitig zu.“
Seit Kurzem geht Greta Thunberg wieder zur Schule. Sie sei froh darüber, schreibt sie auf Instagram. Endlich ein Hauch Normalität. Doch die Zeiten sind nicht danach. Die ersten Termine für die nächsten Klimaproteste stehen fest – und die sollen anders ablaufen als die Aufmärsche der Corona-Leugner, die gerade so viel fragwürdiges Aufsehen wecken. „Wir müssen bei unseren Demos immer mehr darauf achten, wie wir uns von Menschen abgrenzen, die die Wahrheit nicht aushalten“, sagt Luisa Neubauer. „Wir müssen zeigen, wie verantwortungsvoller Protest in diesen Zeiten aussieht.“ Greta Thunberg wird mit dabei sein – und wieder und wieder auf die Fakten pochen.
Diesen Artikel finden Sie in der Ausgabe des Greenpeace Magazins 6.20 „Wahrheit“. Im Schwerpunkt nehmen wir Sie mit auf die Suche nach einem gemeinsamen Verständnis von Fakt und Fälschung, Wissen und Ungewissheiten, wahr und falsch. Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!