In der Ausgabe 2.20 des Greenpeace Magazins „Polarfieber“ geht unsere Serie über die Haltbarkeit von Lebensmitteln weiter. In Teil 2 erklären wir, wie Hersteller die Haltbarkeit ihrer Produkte verlängern und welche Lebensmittel unseres Tests noch genießbar sind
Es ist früher Nachmittag, als Gonde Rühs ein Lineal zur Hand nimmt, um ein aufgeschlagenes Ei zu vermessen. Der 37-jährige Ökotrophologe hat Klemmbrett und Kugelschreiber aus der Hand gelegt, um noch näher an das Objekt herangehen zu können. Er bestimmt den Durchmesser des Dotters und überprüft die Ausbreitung des Eiklars, indem er die kleine Schüssel vorsichtig in der Hand schwenkt. Zusammen mit seiner Beurteilung von Geruch und Aussehen trägt er alles in eine Liste ein. Dann steigt er auf einen Hocker und fotografiert die Schüssel mit dem Ei in der Draufsicht. Beobachtet man Rühs, erinnert das an kriminalpolizeiliche Ermittlungsarbeit, und tatsächlich kann Rühs anhand seines Beweisstückes aus der Kühlkammer bestätigen, was zuvor schon die mikrobiologische Untersuchung ergeben hat: Die Eier sind auch 28 Tage nach Ablauf ihres Mindesthaltbarkeitsdatums in „verkehrsfähigem Zustand“. Oder laienhaft ausgedrückt: Die kann man noch essen.
Seit November 2019 liegen in den Kühlschränken des Lebensmittelinstituts KIN in Neumünster Proben von insgesamt zwölf Lebensmitteln, die das Labor im Auftrag des Greenpeace Magazins regelmäßig auf ihren Zustand überprüft. Die meisten haben ihr Haltbarkeitsdatum überschritten und wären längst aus dem Supermarktregal verschwunden – oder aus dem heimischen Kühlschrank. Denn bei den Verbrauchern wandern mehr Lebensmittel in den Müll als in Landwirtschaft, Verarbeitung, Handel und Gastronomie zusammen. Und oft ohne Not.
Denn was der Test Mitte Januar 2020 bereits ergeben hat: Bei allen Produkten, deren Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten war, hätte dieses auch drei Wochen später angesetzt werden können – mindestens. Auch die Falafelbällchen, die Gonde Rühs als Nächstes zerkleinert und sich dann bemerkenswert ausdauernd unter die Nase hält, sind an diesem Tag, vier Wochen jenseits ihrer Mindesthaltbarkeit, noch tadellos. „Würzig nach Kräutern, getreideartig, Röstaroma“, notiert er.
Hersteller wollen gewährleisten, dass ihre Produkte innerhalb der Garantiezeit genau so aussehen und schmecken, als wären sie gerade erst hergestellt worden. Die Marke soll keinen Schaden nehmen, weil etwa die Chips nicht mehr knackig sind oder der Vanillequark zwar noch schmeckt, aber verblasst ist. Und natürlich sollen die Lebensmittel lange Zeit ihre Qualität beibehalten. Ausschlaggebend dafür sind vor allem Herstellung und Verpackung. Zentrale Fragen für die Unternehmen sind: Wie kann man eine Kontamination durch Keime bei der Produktion ausschließen? Welche Zusatzstoffe verhindern später deren Ausbreitung im Produkt? Und welche Verpackungsart unterstützt die Haltbarkeit im Supermarktregal und dann in der Küche?
Der Joghurt gibt auf
In der mikrobiologischen Abteilung des KIN-Labors ist es der Fruchtjoghurt, der gut drei Wochen nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums als erstes Produkt unseres Tests aus dem Rennen ist. Eben noch hat Laborleiterin Beate Vogelsang eine Petrischale mit Nährboden begutachtet, in die sie einige Tage zuvor den verdünnten Joghurt gegeben hat. Auch ohne Mikroskop sind kleine weiße Punkte zu erkennen, jeder eine Ansammlung Hunderttausender Keime. „Im Joghurt hat sich die Keimzahl an Hefen stark vermehrt“, konstatiert sie, nachdem sie weitere Probegläser überprüft hat. Das Ergebnis überrascht auch die Lebensmitteltechnologin, denn Joghurt gilt etwa im Vergleich zu Milch als wesentlich haltbarer. „Joghurt ist im Prinzip ein fermentiertes Produkt, dessen Bakterienkulturen eine Ausbreitung von Erregern hemmen.“ Das Produkt lagerte außerdem bei exakt acht Grad Celsius im Kühlschrank, der auf der Packung angegebenen maximalen Lagertemperatur. „Die Hefen könnten bereits bei der Verarbeitung über die Fruchtmischung in den Joghurt gelangt sein“, sagt Vogelsang. Am Verschluss des Glases lag es jedenfalls nicht, alle Proben waren einwandfrei luftdicht.
Darf’s ein bisschen weniger sein?
Bei diesen Zusatzstoffen rät die Stiftung Warentest zu Vorsicht: Aspartam (E 951) und Titandioxid (E 171) stehen im Verdacht, Krebs auszulösen. Gleiches gilt für Nitrosamine, die im Körper aus Natriumnitrit (E 250, Fleischherstellung) entstehen können. Phosphorsäure (E 338, vor allem in Cola), ist bei Niereninsuffizienz problematisch; größere Mengen können Herz-Kreislauf-Krankhei- ten begünstigen. Die Farbstoffe Tartrazin (E102), Chinolingelb (E104) und Gelborange S (E110) könnten bei Kindern Hyper- aktivität auslösen.
Die Verpackung ist für die Lebensmittelbranche nicht nur in Sachen Haltbarkeit eine Herausforderung. Auch ihre Ökobilanz rückt zunehmend in den Fokus. Das hat einerseits mit dem neuen Verpackungsgesetz zu tun, das 2019 in Kraft trat und höhere Anforderungen an die Recyclingfähigkeit stellt, andererseits mit einem veränderten Konsumentenverhalten. In einer Zeit, in der Filme wie „Planet Plastic“ Breitenwirkung entfalten und selbst Discounter damit werben, angeblich Kunststoff einzusparen, können die Umweltaspekte einer Verpackung nicht mehr außen vor bleiben.
Verglichen mit der Verpackungstechnologie hat sich rezepturseitig wenig in Sachen Konservierung getan. Mehr als 300 Zusatzstoffe – neben Konservierungs- auch Farbstoffe und Süßungsmittel – sind in der EU zugelassen. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) beziehungsweise ihre Vorgängerorganisation, der Wissenschaftliche Lebensmittelausschuss, haben sie zwar auf Unbedenklichkeit hin überprüft – allerdings teils in den Achtziger- und Neunzigerjahren. Immer wieder zieht die EFSA deshalb im Zuge von Neubewertungen Zusatzstoffe aus dem Verkehr, 2007 etwa den Farbstoff E128, der unter anderem Fleisch ein appetitliches Rot verlieh und im Verdacht steht, krebserregend zu sein. Aktuell gibt es aus dem gleichen Grund eine Diskussion über Titandioxid (E171), dessen Einsatz in Lebensmitteln in Frankreich seit Anfang 2020 verboten ist. Das Weißpigment wird eingesetzt, um Essen appetitlicher aussehen zu lassen. Denn neben der tatsächlichen Haltbarkeit geht es eben immer auch um die optische Frische. Die EFSA sieht allerdings bisher keine stichhaltigen Belege für ein Krebsrisiko.
Bei Bio-Lebensmitteln erlaubt die EU-Ökoverordnung nur 53 Zusatzstoffe; künstlich hergestellte Konservierungs- und Farbstoffe sowie Geschmacksverstärker sind hingegen verboten. Innerhalb des Bio-Sortiments gibt es noch einmal große Unterschiede: Anbauverbände wie Bioland und Demeter tolerieren noch wesentlich weniger Beigaben. Doch natürlich haben auch die Verbände kein Interesse daran, dass ihre Produkte unappetitlich aussehen und schon im Einkaufskorb ihrer Endlichkeit entgegenstreben. Deshalb färben etwa Zusatzstoffe wie Kalziumkarbonat (E170) Milchprodukte weiß, und Verdickungsstoffe wie Pektin (E440) halten die Bio-Mayonnaise im Glas. Abstriche bei der hygienischen Qualität darf es hier natürlich ebenso wenig geben wie bei konventionellen Lebensmitteln.
Insbesondere für Bio-Hersteller könnte demnach von Interesse sein, woran die Forschung derzeit arbeitet. So berichtet das Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung von ersten vielversprechenden Schritten bei der Entwicklung natürlicher Konservierungsstoffe, mit deren Hilfe auf umstrittene Zusätze verzichtet werden könnte. So ist es gelungen, Wurst durch die keimtötende Wirkung von Extrakten aus Hopfenpflanzen haltbarer zu machen und nebenbei das umstrittene, auch in verarbeiteten Bioprodukten erlaubte Nitritpökelsalz zu ersetzen.
Der Test geht weiter
Im KIN-Labor in Neumünster füllt derweil ein Biologielaborant ein Stück „vegane Salami“ in einen Mixer und püriert es zu einem sämigen Brei. Verdünnt mit einer speziellen Lösung, die mögliche Bakterien bindet, wird der pflanzliche Aufschnitt in verschiedene Petrischalen getropft. Ein paar Tage nach dieser sogenannten „Bebrütung“ wird das Laborteam feststellen, dass die Zahl der Hefen gestiegen ist – ein Indiz, dass die Haltbarkeit an ihre Grenzen gerät. Doch Ökotrophologe Gonde Rühs bescheinigt dem Produkt noch keinerlei Geschmacksabweichung. Die vegane Wurst kann man also gut einen Monat nach Überschreiten des Mindesthaltbarkeitsdatums noch immer bedenkenlos essen, und sie bleibt im Test.
Die Ergebnisse sind bemerkenswert und sensibilisieren für die nächste Kühlschrankkonsultation: Muss ich das wirklich wegschmeißen? Wie man es schafft, zu Hause weniger Lebensmittel zu verschwenden und welche Testkandidaten trotz eines überschrittenen Mindesthaltbarkeitsdatums weiter im Rennen bleiben, ist Thema der nächsten Folge.
Die anderen Teile unserer Serie zum Mindesthaltbarkeitsdatum finden Sie in unseren Heften oder online: Teil 1 „Kann das weg?“, Teil 2 „Ist das noch gut?“, Teil 3 „Da ist doch was faul“, Teil 4 „Das hält sich ja ewig“
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