In der Ausgabe 3.20 des Greenpeace Magazins „Enthüllt“ wird die Autorin Silke Burmester emotional. Die Stadtbewohnerin schimpft auf Autos, findet Radfahrer selbstgerecht, hasst E-Scooter und fühlt sich von Fußgängern gegängelt – je nach Verkehrslage und eigenem Fortbewegungsmittel. Damit meint sie letztlich immer auch sich selbst: Autoaggression sozusagen – im knapper werdenden öffentlichen Raum. Ihren Essay lesen Sie hier.
Bis ich ein Kind bekam, hatte ich eine heimliche Freude: Spazierte jemand auf dem Radweg, statt hübsch auf dem Gehweg zu bleiben, fuhr ich mit dem Fahrrad sehr nah heran und klingelte dann heftig. Oder ich fuhr so eng an der Person vorbei, dass sie erschrak. Das Mutterwerden hat mich weich gemacht. Seit dem Moment, als die Mensch gewordene Hilflosigkeit in meinen Armen lag, habe ich nicht nur die Schwäche im Blick, es ist mir ein Bedürfnis, darauf Rücksicht zu nehmen. Zumindest, wenn ich Auto fahre. Dann liebe ich es, am Zebrastreifen anzuhalten, Tempo-30-Zonen im Tuckermodus zu passieren und Radfahrer nur dann zu überholen, wenn ausreichend Platz für sie bleibt.
Bin ich aber mit dem Fahrrad unterwegs, sieht es anders aus. Dann habe ich keine Lust, an Schwung einzubüßen und lege Ampellichter auch mal großzügig aus. Doch mein „Gegner“ ist jetzt nicht mehr der Mensch auf dem Radweg, sondern der Autofahrer oder die Autofahrerin. Ich finde es ungemein anstrengend, für sie mitzudenken. Sich nicht darauf verlassen zu können, dass mein Radweg, so es ihn denn gibt, sicher ist. Also mit Rechtsabbiegern Blickkontakt aufzunehmen, bevor ich geradeaus weiterfahre. Stets darauf gefasst zu sein, dass eine Tür aufgehen könnte, wenn ich an einem stehenden Auto vorbeifahre. Immer damit zu rechnen, dass einer rückwärts aus einer Parklücke setzt und, und, und...
Es ist erschreckend, für wie dehnbar, für wie interpretierbar wir Regeln oder auch Gesetze halten, je nachdem, in welcher Position wir uns gerade befinden. Und besonders erschreckend ist, dass ausgerechnet im Straßenverkehr das Gesetz des Stärkeren gilt. Ausgerechnet hier, wo Versehrtheit und Tod auf der Lauer liegen, ist akzeptiert, dass derjenige, der die meisten PS unter seinem Hintern versammelt, meint, das größte
Recht zu haben, sich durchzusetzen.
Die Jahre des Wirtschaftswunders wirken fort. Damals nutzten Stadtplaner das plötzliche Übermaß an Platz in den zerstörten Städten, um der Krönung des aus den Trümmern erschaffenen individuellen Wohlstandes zum Glanz zu verhelfen, dem Auto. Breite, mehrspurige Straßen, Stadtautobahnen und Ringstraßen, riesige Kreuzungen und Parkflächen wurden angelegt, denn das Auto bedeutete „Zukunft“. Und während die freie Fahrt für freie Bürger es gestattete, den Schatten der Vergangenheit davonzubrausen, entstand in Deutschland ein Autokult, der mit dem Waffenwahn der US-Amerikaner vergleichbar ist.
Und jetzt, Millionen von Autos später, stehen wir da – statt zu fahren, denn unsere Städte sind dicht. Zu voll, um noch von der Stelle zu kommen, und alle schimpfen auf alle. Je enger die Städte, desto lauter das Gepöbel. Und desto größer die Aggression.
Wir dehnen Gesetze, wie wir es brauchen
Die wächst bei mir vor allem in der Rolle der zu Fuß Gehenden und als Bewohnerin eines kleinen innerstädtischen Viertels. Hier parken die Wagen mittlerweile so dicht, dass es mitunter nicht mehr möglich ist, die Straßenseite zu wechseln, weil keine einzige Lücke bleibt. Und je mehr ich mich von den Autos bedrängt fühle, je deutlicher wird, in welchem Missverhältnis von Auto und Mensch wir leben, desto mehr steigt die Bereitschaft, Schäden an anderer Leute Eigentum in Kauf zu nehmen. Nicht im Sinne von: „Ich hau da jetzt mal drauf!“, sondern im Sinne von: „Hups, das passiert nun mal, wenn Sie Ihr Auto so abstellen, dass ich drübergehen muss.“ Die Leute können nur froh sein, dass ich keine Kinderkarre mehr schiebe. Ich würde die wahrscheinlich mit zur Schau getragener mütterlicher Vertäumtheit sehr, sehr nah an den Autoblechen vorbeibewegen.