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Biontech: Mit «Lichtgeschwindigkeit» zum Corona-Impfstoff Von Michael Bauer, dpa
Eigentlich will das Mainzer Pharmaunternehmen den Kampf gegen den Krebs revolutionieren. Doch dann kommt die Corona-Krise. Und aus dem Onkologen Ugur Sahin wird ein Kämpfer gegen die Pandemie.
Mainz (dpa) - «An der Goldgrube 12». Fast könnte man glauben, die Gründer von Biontech hatten seherische Gaben, als sie an dieser Mainzer Adresse den Sitz ihres Unternehmens bezogen. Aus kleinen Anfängen heraus hat sich Biontech binnen zwölf Jahren zu einem Leuchtturm der deutschen Biotech-Branche mit weltweit mehr als 1300 Mitarbeitern entwickelt. Spezialisiert ist Biontech auf individualisierte Immuntherapien für Krebspatienten, doch global für Aufsehen sorgt es wegen seiner führenden Rolle bei der Suche nach einem Impfstoff gegen das Coronavirus, für die sich die Mainzer mit dem US-Pharmagiganten Pfizer zusammengeschlossen haben.
Als erste westliche Hersteller haben sie vielversprechende Ergebnisse einer für die Zulassung entscheidenden Impfstoff-Studie veröffentlicht. Ihr Impfstoff biete einen über 90-prozentigen Schutz vor Covid-19, erklärten Biontech und Pfizer - eine Überraschung.
Gegründet wurde Biontech von dem Onkologen Ugur Sahin und seiner Frau Özlem Türeci. Der 55 Jahre alte Sahin leitet bis heute das Unternehmen als Vorstandschef, die 53-jährige Türeci ist medizinische Geschäftsführerin. Die beiden Biontech-Gründer sind Humanmediziner. Sahin, der in der Türkei geboren wurde und später mit seinen Eltern nach Deutschland kam, promovierte in Köln. Die in Deutschland geborene Türeci machte ihren Doktor im saarländischen Homburg.
Sahin ist das Gesicht von Biontech. In einem dpa-Interview hat er die Herausforderungen, denen sich das Unternehmen stellen muss, einmal mit denen des US-Elektroautobauers Tesla verglichen. Doch der Unterschied zwischen ihm und Tesla-Gründer Elon Musk ist groß. Sahin wirkt bei seinen Auftritten bescheiden, von Glamour und Inszenierung keine Spur. Sachlich und mit sanfter Stimme berichtet er von Forschungen - mehr zurückhaltender Wissenschaftler als smarter CEO. Dabei versteht er es, komplizierte Vorgänge aus dem Innersten der menschlichen Zelle einem breiteren Publikum verständlich zu machen.
Sahin hat Medizin und Mathematik studiert. Erfahrung als Mediziner sammelte er als Arzt in Köln und in Homburg. Am Universitätsklinikum des Saarlandes war er von 1992 bis 2000 als Wissenschaftler und Arzt für Innere Medizin tätig. 1999 habilitierte er in Molekularer Medizin und Immunologie. «Gerne erinnere ich mich an viele persönliche Gespräche», sagte Professor Michael Menger, Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität des Saarlandes. «Wir freuen uns mit ihm über seine wissenschaftlichen und beruflichen Erfolge.»
Sahins Leidenschaft galt und gilt dem Kampf gegen den Krebs. Dieser Wunsch, neue Wege in der Onkologie zu finden, führte 2008 zur Gründung von Biontech. «Als deutsches Unternehmen mit Wurzeln in Mainz wollen wir das weltweit führende Biotechnologieunternehmen für individualisierte Krebsmedizin werden», lautet der Anspruch. Biontech verfolgt dabei den Ansatz, dass der Tumor jedes Krebspatienten einzigartig ist. «Unser Ziel ist es, individualisierte, auf den Krebs jedes einzelnen Patienten maßgeschneiderte Therapien zu entwickeln», erklärte Sahin vor knapp einem Jahr der Deutschen Presse-Agentur.
Diese Suche basiert laut Sahin auf den genetischen Merkmalen des jeweiligen Tumors. Biontech setzt auf «Next-Generation-Sequencing», eine Technologie, die die Analytik von Milliarden genetischer Merkmale in der menschlichen Erbsubstanz sowie Veränderungen im Krebs erfassen kann - etwas komplett Neues. Und dieses Wissen aus der Tumor- und Immunforschung und die Expertise mit dem Botenmolekül mRNA, in dem die Bauanleitung zur Herstellung von Proteinen steckt, half Biontech jetzt auch bei der Suche nach einem Impfstoff.
Sahin berichtete jüngst in einem Gespräch mit den Zeitungen der VRM, er sei Ende Januar in einer wissenschaftlichen Publikation erstmals auf das Coronavirus aufmerksamen geworden. Dort seien die Infektionen bei einem Ausbruch in Wuhan beschrieben worden. Er habe schnell erkennen müssen, dass diese Infektion wohl nicht lokal begrenzt bleibe, sondern sich pandemisch ausbreiten werde. «Dementsprechend sahen wir uns auch verpflichtet, hier etwas zu tun, weil wir die Grundvoraussetzung dafür haben, Impfstoffe zu entwickeln.»
Man habe daraufhin die Suche nach dem Impfstoff - das Projekt «Lichtgeschwindigkeit» - gestartet. Es darum gegangen, sich auf das Nötige zu konzentrieren und Wartezeiten abzuschaffen, sagte Sahin. «Damit wir diese Geisteseinstellung im Team und allen anderen kreieren konnten, haben wir diesen Begriff Lichtgeschwindigkeit geprägt. Licht steht niemals, ist immer in Bewegung, sodass dieses Projekt ohne Verzögerungen, ohne Wartezeiten mit höchster Priorität durchgeführt wird.»
Zwar nicht mit Lichtgeschwindigkeit, aber mit einem Tempo, das die Fachwelt verblüfft hat, ist es den Forschern von Biontech nun womöglich gelungen, einen wirkungsvollen Impfstoff gegen die Pandemie zu entdecken. Auch wenn die Zulassung noch fehlt: Die Nachricht ließ die Biontech-Aktie an der US-Technologiebörse Nasdaq hochschießen.
Von dem erheblichen Kursanstieg seit dem Börsengang im Oktober 2019 profitieren unter anderem die Biotech-Investoren Andreas und Thomas Strüngmann. Die Brüder, die 2005 den Generikahersteller Hexal an Novartis verkauft hatten, sind die größten Biotech-Gesellschafter. Auch Sahin kann sich freuen: Er hält ein größeres Aktienpaket.