Stellen Sie sich vor, es gäbe nur einen Apfel auf der ganzen Welt. Unser derzeitiges Wirtschaftssystem würde den Menschen belohnen, der sich ihn als erstes schnappt und möglichst teuer verkauft – nicht denjenigen, der sich überlegt, wie alle was davon haben könnten. Belohnt werden Konkurrenzkampf, Profitorientierung und Egoismus. Ein Forscherteam um den Verhaltensökonomen Gianluca Grimalda vom Kieler Institut für Weltwirtschaft fand nun heraus: Das liegt vor allem an den Männern, und sie sind es auch, die davon am meisten profitieren.
Bei ihrem Forschungsprojekt sei es ihnen zunächst gar nicht um die Erforschung von Geschlechterunterschieden gegangen, erzählt der aus Italien stammende Grimalda im Videogespräch. „Unser Fokus lag darauf, die Einstellung zu Fairness in unterschiedlichen Ländern zu analysieren.“ Dafür führten sie Experimente in Italien, den USA, Norwegen und Deutschland durch. Von diesen Ländern erwarteten sie sich sehr verschiedene Ergebnisse, da die USA etwa libertär geprägt sind, während Norwegen als extrem egalitär gilt. An acht Universitäten ließen die Forscher jeweils 21 Studierende zum Test antreten: Unter verschiedenen Voraussetzungen wurde ihnen ein Verdienst in Aussicht gestellt, sie mussten entscheiden in welchem Maße sie diesen umverteilen oder behalten wollten. Mal kannten sie die Höhe ihres Verdienstes schon vorher, mal nicht, mal spiegelte das Gefälle der Verdienste unter den Teilnehmenden die tatsächlichen Einkommensunterschiede in dem jeweiligen Land wider, mal bestimmte sich die Summe durch Glück, mal durch eigene Leistung. „Unsere experimentelle Methodik ermöglichte es uns, in einem Universitätsraum eine Situation der Ungleichheit nachzustellen, die dem wirklichen Leben entspricht“, erklärt Grimaldi. „So konnten wir sehen, wie die Forderung nach Umverteilung variierte.“
Bei der Auswertung der Ergebnisse stießen sie auf einen deutlichen Unterschied: Frauen entschieden sich in den Experimenten viel häufiger als Männer dafür, Geld auf die gesamte teilnehmende Gruppe umzuverteilen, statt alles für sich zu behalten. Die eigentliche Überraschung war aber nicht, dass Frauen mehr umverteilten als Männer. Sondern, dass sie das nur taten, wenn ihr Verdienst von ihrer Leistung abhing. Denn in einem der Szenarien mussten die Teilnehmenden mehrere Aufgaben bewältigen, die auf Intelligenz, Fleiß oder Schnelligkeit abzielten – wie etwa Muster zu verstehen und richtig zu ergänzen, Buchstaben in einem Text zu finden oder ein Quiz zu beantworten. Je besser sie dabei abschnitten, desto mehr Geld verdienten sie. Ob und wie stark sie dieses umverteilen wollen, mussten sie aber schon im Voraus festlegen. Die Frauen verteilten unter diesen Voraussetzungen vermehrt um, die Männer nicht.
Eine Erklärung für dieses Verhalten liefern die Forscher auch gleich mit: Selbstbewusstsein. Denn vor den Aufgaben baten sie die Teilnehmenden um eine Einschätzung, wie gut sie abschneiden würden. Die Männer schätzten sich im Gegensatz zu den Frauen deutlich besser ein – und fanden folglich auch, dass ihnen mehr Geld zustand. „Hatten die Männer zu Recht ein höheres Selbstvertrauen als Frauen?“, fragt Gianluca Grimalda, und beantwortet die Frage gleich selbst: „Nicht wirklich. Insgesamt gab es keinen signifikanten Unterschied in der Leistung zwischen den Geschlechtern.“ Auch die Frauen hätten sich im übrigen tendenziell überschätzt, jedoch nicht so stark wie die männlichen Teilnehmer.
Den Forschern zufolge erklärte das geringere Selbstbewusstsein der Frauen in fünfzig Prozent der Fälle die Tendenz zur Umverteilung, für zwölf Prozent machen sie Risikovermeidung verantwortlich – da die Teilnehmenden vorher ja nicht wussten, ob sie durch die Umverteilung Geld gewinnen oder verlieren würden, tendierten die Frauen also eher dazu, bei dem sicheren Betrag zu bleiben. „Über den Rest wissen wir wenig, aber solch ein Phänomen mit so einem großen Prozentsatz erklären zu können, ist schon sehr viel“, erklärt Grimalda. „Das ist die Schönheit des menschlichen Verhaltens: Es ist so vielfältig.“
Die Ergebnisse von Gianluca Grimalda und seinem Team werden von anderen Studien gestützt. So fand der schweizerische Verhaltensökonom Thomas Buser 2014 mit einem Team mithilfe von Experimenten heraus, dass Schülerinnen den Konkurrenzkampf scheuten, während ihre männlichen Schulkameraden damit häufiger kein Problem haben. Das hatte auch Einfluss auf ihre Berufswahl: Kompetitiv orientierte Teilnehmende wählten häufiger prestigeträchtige Karrieren, die Mathematik und Naturwissenschaften beinhalten. Weniger kompetitive Teilnehmende – also häufig die Mädchen – entschieden sich für weniger prestigeträchtige und tendenziell schlechter bezahlte Berufe. Durch die Eigeneinschätzung ihrer Konkurrenzfähigkeit ließen sich rund zwanzig Prozent der unterschiedlichen Berufswahlen von Frauen und Männern erklären.
Dass Frauen selbst dann weniger Lohn beziehen als ihre männlichen Kollegen, wenn sie im gleichen Beruf arbeiten, fand Adina Sterling von der amerikanischen Stanford Graduate School of Business mit ihrem Team in einer im letzten Jahr veröffentlichen Studie heraus. Demnach bekommen Frauen auch in den sogenannten MINT-Berufen – Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik – weniger als Männer, und zwar gleich ab dem Beginn ihrer Karrieren. Die Erklärung auch hier wieder: Selbstvertrauen. „Frauen und Männer verfügen bei Studienabschluss über nahezu identisches Humankapital“, schreiben die Forschenden. „Aber kulturelle Überzeugungen, dass Männer besser für MINT-Berufe geeignet sind als Frauen, können zu Selbstüberzeugungen führen, die sich auf die Bezahlung auswirken.“ Frei übersetzt heißt das: Wenn die Gesellschaft – zu der auch die Chefs gehören, denen die Frauen in ihren Vorstellungsgesprächen gegenübersitzen – den Frauen keine Karriere zutraut, zum Beispiel weil sie vielleicht irgendwann eine Familie gründen wollen, trauen sich die Frauen das selber auch nicht zu. Das lässt sie weniger hart um ihr Gehalt verhandeln – und dann eben auch weniger Gehalt bekommen.
Frauen verdienen in Deutschland laut Statistischem Bundesamt 19 Prozent weniger als Männer. Damit man diesen Unterschied besser begreift, berechnet die Initiative Equal Pay Day jedes Jahr den Tag, bis zu dem die Frauen umsonst arbeiten, während die Männer ab Beginn des Jahres bezahlt werden – vorausgesetzt alle würden denselben Stundenlohn bekommen. Wie der Zufall es will, fällt der Equal Pay Day genau in diese Woche: auf den 10. März. Erst ab diesem Mittwoch werden die Frauen also im übertragenen Sinne für ihre Arbeit bezahlt. Wenn man die unbezahlten Dienstleistungen wie Hausarbeit, Kindererziehung und dergleichen einrechnen würde, läge dieser Tag noch weitaus später im Jahr. Die Unterschiede bei den Löhnen hängen außerdem auch davon ab, wo in Deutschland sie leben: Denn während die Frauen in Westdeutschland durchschnittlich zwanzig Prozent weniger verdienen als die Männer, liegt der Unterschied in Ostdeutschland nur bei sieben Prozent. Eine mögliche Erklärung dafür ist das alte System der DDR, in dem die Kinderbetreuung viel stärker ausgebaut war und Frauen deswegen zeitintensivere Karrieren verfolgen konnten.
Der Vergleich Deutschlands mit der EU zeigt: Nur in Estland und Österreich werden Frauen ungerechter bezahlt. Am fairsten ist die Bezahlung in Rumänien, Luxemburg und Italien. Bei dieser Statistik wird jeweils der allgemeine Durchschnittsverdienst verglichen, der unbereinigte Gender Pay Gap. Vergleicht man ähnliche Qualifikationen, Tätigkeiten und Erwerbsbiografien (wie in der Studie von Adina Sterling), spricht man vom bereinigten Gender Pay Gap. Der liegt in Deutschland immer noch bei rund sechs Prozent. Dabei ist die abweichende Bezahlung bei gleicher Qualifikation und Leistung eine Diskriminierung der unterbezahlten Person und nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz eigentlich rechtswidrig.
Die Politik versucht, mit verschiedenen Maßnahmen entgegen zu wirken, etwa mit der Einführung einer verpflichtenden Frauenquote von dreißig Prozent für die Aufsichtsräte der börsennotierten Unternehmen. Oder mit dem Entgeldtransparenzgesetz, laut dem seit Anfang 2018 alle Angestellten einen Anspruch darauf haben, das Gehalt von Kolleginnen und Kollegen in vergleichbaren Positionen zu erfahren. Laut einem neuen Richtlinienentwurf der EU-Kommission sollen außerdem künftig alle Unternehmen mit mehr als 250 Angestellten angeben, wie viel die bei ihnen arbeitenden Männer und Frauen im Vergleich verdienen. Wird bei einem Unternehmen eine Lohndifferenz von fünf Prozent festgestellt, soll eine verpflichtende Untersuchung eingeführt werden. Über den Entwurf müssen nun die EU-Länder und das Parlament abstimmen.
Gianluca Grimalda will ganz woanders ansetzen. Eine Möglichkeit wäre es etwa, direkt auf das Selbstbewusstsein einzuwirken, zum Beispiel im Schulunterricht. Er überlegt: „Da es die Männer zu sein scheinen, die ihre Fähigkeiten überschätzen, scheint es eine natürliche Lösung zu sein, ihr übermäßiges Selbstvertrauen zu zügeln.“ Und nicht etwa das der Frauen dem der Männer anzugleichen. So ein tiefer Eingriff könnte aber auch unbeabsichtigte Folgen haben: „Das Unterdrücken der Selbstüberschätzung von Menschen könnte den Unternehmergeist und die Innovationsfähigkeit verringern“, gibt Grimalda zu bedenken.
Eine andere Möglichkeit wäre daher, am Wirtschaftssystem anzusetzen. „Wenn das Produktionssystem mehr auf das Gemeinwohl ausgerichtet wäre als auf den Profit, dann würden die Fähigkeiten von Frauen wahrscheinlich mehr geschätzt werden“, so der Verhaltensökonom. Das sei zum Beispiel in Kooperativen der Fall. „Der kooperative Sektor könnte mehr finanzielle Anreize von der Regierung erhalten“, sagt Grimalda. „Das könnte ein Weg sein.“