Liebe Leserinnen und Leser,

Invidia (Neid), eine der sieben Todsünden, „bezeichnet den Wunsch der neidenden Person, selbst über mindestens als gleichwertig empfundene Güter wie die beneidete Person zu verfügen“, belehrt mich Wikipedia. Ich gebe zu, in letzter Zeit öfter mal jemanden beneidet zu haben. Nicht um Jaguars, Yachten oder Juwelen, nein: um den Inhalt eines kleinen Fläschchens. Die Freunde und Freundinnen aus Großbritannien, nur eine davon über 70, sind fast alle schon mindestens einmal geimpft wie 19 Millionen ihrer Landsleute. Selbst diejenigen, deren 60. Geburtstag noch fern ist, haben Aussicht auf einen Impftermin, und das ganze Land hofft auf Lockerungen im Juni. Letztes Jahr ging es den Menschen auf der Insel gar nicht gut, aber jetzt scheint es aufwärts zu gehen.

Und wir? Germany: zero points! Noch nicht mal alle über 80 sind geimpft, von über 70-Jährigen, Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen und erst recht von über 60-Jährigen ganz zu schweigen. Trotz der in Rekordzeit entwickelten Impfstoffe treten wir auf der Stelle, Opfer der EU-Bürokratie, der berühmt-berüchtigten deutschen Gründlichkeit und Behördenbräsigkeit oder einer ungesunden Mixtur aus diesen Zutaten. Vielleicht hätte man rechtzeitig jemanden beauftragen sollen, der sowas organisieren kann? In England tat dies ab April 2020 (!) Kate Bingham. Was immer auch bei uns schiefgelaufen sein mag, es scheint ein Frühling des Missvergnügens zu werden.

Dabei hatte dieser offenbar beschlossen, dem ersten Teil seines Namens gerecht zu werden und schon im Spätwinter einen großen Auftritt hinzulegen, und es kam, was kommen musste: Alle, aber auch wirklich alle waren draußen. Es wurde eng in Parks, an Hafenrand und Flussufern. Nun hat die Stadt Hamburg verfügt, dass am Wochenende an bestimmten Orten (also überall, wo es schön ist) auch draußen Masken zu tragen sind. So bleibe ich wohl künftig am Wochenende auch bei strahlendem Sonnenschein zu Hause, denn längeres Maskentragen, vor allem bei Bewegung, geht bei mir nicht. Irgendwann im Spätsommer oder Herbst werde ich dann etwas ausgeblichen, aber hoffentlich mit „Impfangebot“ (klingt nach Supermarkt) wieder ans Tageslicht kriechen.

Hier kommt wieder die böse Invidia ins Spiel: Wer jetzt einen Garten oder wenigstens einen halbwegs vernünftigen Balkon hat, ist fein raus. Wir haben beides nicht. Jedoch: aufs Land ziehen? Oder in die Vorstadt ins Einfamilienhaus? Abgesehen von den objektiv-praktischen Gründen – miserable Infrastruktur auf dem Land, Autoanschaffung erforderlich, Eigenheim sowieso unerschwinglich – und den objektiv-ökologischen Gründen – Flächenfraß, Versiegelung und Zersiedelung, CO2-Ausstoß – käme das für uns auch ganz subjektiv nicht infrage.

Denn in einem Dorf, und sei es noch so idyllisch, oder gar in einer Vorortsiedlung befällt uns statt Sehnsucht stets große Beklemmung. Häuschen mit Gärtchen und Hundchen war nie unser Traum, eher ein Albtraum, selbst wenn es kein „Schizo-Haus“ ist. Gern sitzen wir mal gemütlich in einem (möglichst nicht so ordentlichen) Garten, aber – Gartenarbeit?! Laden Sie uns bitte erst ein, wenn Sie damit fertig sind. Dabei bin ich sogar in einem Dorf aufgewachsen. Vielleicht ist genau das der Grund: Je näher das Abitur rückte, desto mehr wuchs die Vorfreude auf die Stadt. Ich bin aus der Art geschlagen. Meine Geschwister würden niemals mitten in die Innenstadt ziehen.

Das Stadt-Land-Thema kann für erbitterten Streit sorgen. Gerade wird den Grünen zu Unrecht unterstellt, den Bau von Einfamilienhäusern „verbieten“ zu wollen. Die Frage ist doch wohl eher: Klimaschutz oder Eigennutz? Zum Glück gibt es zeitgemäße Modelle des Landlebens, ganz ohne Neubau, Carport und Gartenzwergarmee, dafür mit Bahn- und Internetanbindung. Die Städte wiederum müssen unbedingt den Spagat zwischen Verdichtung und Begrünung, zwischen Wohnraumbedarf und Hitzekollaps hinkriegen.

Bis das klappt, bräuchte ich mal kurz eine Zwischenlösung. Einen Pop-up-Garten zum Ausklappen. Einen aufblasbaren Balkon. Oder: eine rasante Impfkampagne, damit wir aus dem Lockdown-Lockerungs-Lockdown-Karussell irgendwann rauskommen und einfach angst- und maskenfrei spazieren gehen können.

Unterschrift

Kerstin Eitner
Redakteurin