Liebe Leserinnen und Leser,
ich verstehe ja vieles nicht. Warum sind die im Kino angebotenen Snacks in ohrenbetäubend raschelnden Tüten verpackt? Was veranlasst Menschen, am Ende einer Rolltreppe abrupt stehenzubleiben und somit für Auffahrunfälle zu sorgen? Weshalb kacheln auf E-Scootern gern zwei Personen über Gehwege, und was soll das überhaupt mit diesen Lifestyle-Accessoires?
Aber mit solchen Kinkerlitzchen wollen wir uns heute nicht aufhalten, denn es gibt Phänomene ganz anderen Kalibers, die ich erst recht nicht verstehe. Da gab im April laut ARD-Deutschlandtrend eine relative Mehrheit von 44 Prozent meiner Landsleute zu Protokoll, es gehe ihnen beim Klimaschutz nicht schnell genug (gegenüber 27 Prozent, denen es zu schnell ging und 18 Prozent, die das Tempo genau richtig fanden). Zudem wurde Umwelt- und Klimaschutz als wichtigstes Problem genannt, um das sich die Politik kümmern solle.
Doch wehe, wenn es dann ans Eingemachte geht. Denn kurz darauf präsentierten Wirtschafts- und Bauministerium ihren Entwurf für das Gebäudeenergiegesetz (GEG), heute besser bekannt als „Habecks Heizungs-Hammer“ (Bildzeitung und danach noch viele andere Medien), „Energie-Stasi“ (CDU) oder „Heizungsmassaker“ und „Verarmungsprogramm“ (AfD).
Mal ganz abgesehen davon, was wirklich drinstand im Gesetz, was schmerzlich fehlte (der soziale Ausgleich) oder wie es am Ende mal aussehen wird, die Ampel gab danach ein klägliches Bild ab. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) reagierte dünnhäutig und beleidigt, die FDP zelebrierte ihre Lieblingsrolle als regierungseigene Opposition und Kanzler Olaf Scholz (SPD) hatte sich, man kennt das, in sein inneres Schweigekloster zurückgezogen.
Und die Deutschen? Ließen die seit Längerem gesunkenen Umfragewerte für die Ampel weiter in den Keller rauschen und stürzten sich weinend in die Arme der AfD. Im ARD-Deutschlandtrend vom 1. Juni erreichte die Rechtsaußen-Partei in der Sonntagsfrage 18 Prozent und zog mit der SPD gleich. Wobei nur ein gutes Drittel der Befragten angab, aus Überzeugung für die AfD stimmen zu wollen, rund zwei Drittel hingegen aus Enttäuschung über andere Parteien.
Oder vielleicht doch eher aus Angst vor Veränderung? Vor Wohlstandseinbußen – Finger weg von meiner Heizung, meinem Auto, meinem Schnitzel, meiner Flugreise! Eine weitere repräsentative Umfrage im Auftrag der Zeit ergab Anfang Juni, dass 70 Prozent der Deutschen es begrüßen würden, wenn die Regierung das GEG fallenlassen würde. Die Klimakrise wedeln wir dann wohl am besten mit der Fliegenklatsche weg.
Irgendwie erinnert mich das an den kleinen Pepe aus „Asterix bei den Spaniern“, der, um seinen Willen zu bekommen, stets droht: „Ich halte jetzt die Luft an, bis mir etwas passiert.“ Den Denkzettel verpassen die Enttäuschten letztlich sich selbst. Denn was immer sie bei der AfD zu finden hoffen, der angeblich so wichtige Klima- und Umweltschutz, mit dem es vielen doch nicht schnell genug geht, ist bei ihr nicht im Angebot. Her mit den fossilen Energien und der Atomkraft, weg mit den lästigen Windrädern, das muss energiepolitisch reichen.
Die AfD ist eine vom Verfassungsschutz 2021 als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestufte Partei (die gerichtliche Auseinandersetzung darum läuft noch) mit mindestens einem juristisch beglaubigten Faschisten (Björn Höcke) in ihren Reihen, gegen den gerade Anklage wegen der mutmaßlichen Verwendung von Nazi-Vokabular erhoben wurde. Was die Partei sonst so vorhat: Die sofortige Einstellung jeglicher Unterstützung der Ukraine und Unterwerfung derselben unter die Herrschaft von Zar Putin. Abwehr alles und aller „Fremden“. Deutschland den Deutschen. Zurück in eine vermeintlich goldene Vergangenheit, die es so nie gab. Ist es das, was ein knappes Fünftel der Wahlberechtigten möchte? Die Fünfzigerjahre, bloß mit sozialen Medien?
CDU, CSU und Teile der Presse haben beim Höhenflug der Rechten mindestens so sehr mitgeholfen wie die Politik der Bundesregierung, schreibt Johannes Hillje in der Zeit. Das dürfte stimmen. Dass sich die Hinwendung zu einer Dagegen-Partei wie der AfD vermutlich auf die eine oder andere Art erklären lässt, macht die Sache aber nicht besser – und ich bin nicht gewillt, dafür Verständnis aufzubringen.
Ein wirksames Rezept für ein Gegengift mit Durchschlagskraft hat bislang niemand so richtig parat. Gutes Regieren, mehr Mut zur Wahrheit, und sei sie noch so schmerzlich, das Sprechen über den Elefanten im Raum, den allseits gefürchteten Verzicht – das alles ist bestimmt nicht verkehrt, aber ob es helfen würde?
Was mir auf Anhieb einleuchtet, ist der neue Aktionsschwerpunkt der „Letzten Generation“ (mit früheren Aktionen hatte ich zuweilen meine Schwierigkeiten): Die Aktivistinnen und Aktivisten wollen sich in den nächsten Wochen besonders die Reichen vorknöpfen, und das mit gutem Grund – denn, so Samira El Ouassil im Spiegel: „Der durchschnittliche CO2-Ausstoß von Milliardären hat im Jahr 2018 8190 Tonnen pro Kopf betragen. Raten Sie mal, was der Pro-Kopf-Ausstoß weltweit beträgt. 5 Tonnen.“ Privatjets und Yachten spielen dabei eine besonders unrühmliche Rolle. Folgerichtig sind die Aktiven zum Auftakt nach Sylt gereist, womöglich mit dem 49-Euro-Ticket, haben sich Zugang zum örtlichen Flughafen verschafft und einen teuren Privatflieger mithilfe eines Feuerlöschers orange eingefärbt. Man darf sich für die nächste Zeit wohl auf weitere Farbspektakel dieser Art einstellen.
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Schönes Wochenende, auch wenn Sie weder über eigenes Flugzeug noch Luxusyacht verfügen.
Kerstin Eitner
Redakteurin
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