Liebe Leserinnen und Leser,
die 27. UN-Klimakonferenz, kurz COP-27, im ägyptischen Scharm-el-Scheich wäre ein guter Anlass, auch anderswo mal wieder ausführlich über die Klimakrise zu reden oder zu berichten. Denn seit dem ersten Klimagipfel in Berlin 1995 mit ein paar Hundert Delegierten nimmt nicht nur deren Anzahl (diesmal über 40.000) jährlich zu, sondern auch: die Erderhitzung. Steigender Meeresspiegel, Extremwetter, Gletscherschmelze, tauender Permafrost – mit dem wachsenden öffentlichen Bewusstsein dafür wächst auch das Gefühl der Dringlichkeit.
Was uns direkt zu Kartoffelbrei, Tomatensoße und Sekundenkleber führt, den Werkzeugen, mit denen die Aktiven der „Letzten Generation“ ihre Verzweiflung zum Ausdruck bringen. Sie kleben sich auf Straßen oder an Gemälden fest, nachdem sie zuvor mehr oder weniger flüssige Lebensmittel auf die Bilder geklatscht haben. Ob in Berlin oder Potsdam, Den Haag, Paris oder Madrid, bevorzugte Ziele sind besonders bekannte Kunstwerke oder eben viel befahrene Straßen.
Wie ich das finde? Leider habe ich, im Gegensatz zu anderen, keinen Instant-Meinungsfinder. Das Diskussionsklima wurde letzthin vor allem durch die Frage aufgeheizt, ob die „Letzte Generation“ mitschuldig am Tod einer Radfahrerin sei, weil ein sogenannter Rüstwagen infolge einer Klebeaktion nicht schnell genug zum Unfallopfer durchkam. „Eine unmögliche Debatte“, schreibt Stefan Niggemeier in Übermedien. Beispiel „Bild“-Zeitung: „Das ist auch eure Schuld, ihr Klima-Kleber!“ Später stellte sich heraus, dass die Schuldzuweisung mindestens zweifelhaft, wenn nicht gegenstandslos ist. Wie es wirklich war, ermittelt jetzt die Staatsanwaltschaft.
Kein Grund zur Beruhigung
Aber beruhigt hat sich niemand. Ein Antrag von CDU und CSU, für „besonders schwere Fälle von Nötigung“ drei bis fünf Jahre Haft verhängen zu können, scheiterte gestern im Bundestag. Gerichtsurteile fallen derzeit sehr unterschiedlich aus. Während ein Berliner Gericht eine Aktivistin freisprach, weil sie durch das Festkleben auf der Straße keine Gewalt ausgeübt habe, wurden in München gerade zwölf Aktivisten für (vorerst) 30 Tage ohne Gerichtsverfahren in den Knast gesteckt („Präventivhaft“). Man sieht also, auch die Justiz ist sich keineswegs einig. Das hilft mir bei der Meinungsbildung allerdings auch nicht weiter.
Klimaprotest muss sein. Es war grandios, als „Fridays for Future“, begonnen als einsamer Schulstreik einer fünfzehnjährigen Schwedin, allmählich zu einer großen internationalen Bewegung wurde. Omas, Wissenschaftler, Eltern – plötzlich waren alle „for Future“. Aber das war herkömmlicher Protest, auch wenn ein paar Sauertöpfe forderten, die lieben Kinder sollten doch bitte außerhalb der Schulzeit demonstrieren. Na klar, so wie Gewerkschaften auch nur sonntags oder außerhalb der Ferienzeit streiken dürfen, damit ja niemand gestört wird.
Sich selbst festkleben mag ungewöhnlich sein. Andererseits: Haben sich nicht ganze Generationen von Protestierenden irgendwo angekettet, abgeseilt oder einfach hingesetzt, sich untergehakt und von der Polizei wegtragen lassen? Das Bundesverfassungsgericht 1995 hat entschieden, dass eine Sitzblockade keine Gewalt und somit der Tatbestand der Nötigung nicht erfüllt sei. Und was, fragt Stefan Niggemeier in seinem Artikel, ist mit Bauernprotesten per Traktor, wäre das nicht auch „Terrorismus“, den manche bereits heraufdämmern sehen?
Wer klebt, der haftet
Dass der Straßenverkehr zum Klimawandel nicht unerheblich beiträgt, ist wohl unstrittig. Aber was hat ein Bild damit zu tun? Und Kartoffelbrei? Ich zucke ehrlich gesagt jedes Mal zusammen, wenn ich so eine Aktion sehe. Noch wurde kein Gemälde beschädigt – im Fall von Monets „Heuschober“ war es wohl eher Zufall, weil nur eine dünne Filzschicht zwischen Glas und Bild das Durchsickern von Flüssigkeit verhinderte.
Nun bin ich keine Kunstexpertin, aber die Gemälde sind für mich jenseits ihres monetären Werts (für den sie nichts können) kostbar, Zeugen einer fernen Vergangenheit, oft mit einer Bedeutung aufgeladen, die sich der unbedarften Betrachterin nicht von selbst erschließt. In der Ukraine versucht man mühevoll, Kunstwerke vor der Zerstörung zu schützen, denn sie sind Teil der Geschichte und Identität des Landes. Alte Handschriften von unschätzbarem Wert wurden oft unter Lebensgefahr aus der Stadt Timbuktu herausgeschmuggelt, um sie vor dem Zugriff diverser Milizen zu retten.
Im Übrigen hasse ich es, wenn mit Essen geworfen wird. Bei uns zu Hause, es waren die späten Nachkriegsjahre, wurde so gut wie nichts weggeworfen, aufgewärmte Reste gab es dann eben dreimal nacheinander (eine Forderung der „Letzten Generation“ lautet: Essen retten/Leben retten). Dass die Botschaft „Klima retten, und zwar sofort“ durch solche Aktionen unmittelbar verstanden und das Ziel dadurch eher erreicht wird, wage ich zu bezweifeln. Vielleicht im Gegenteil – rund 75 Prozent der Deutschen denken laut einer Umfrage jetzt schlechter über die Klimaschutzbewegung. „Auch diese Aktivisten erzeugen eigentlich nur Bilder, die in den Medien zirkulieren“, meint der Kunst- und Medientheoretiker Boris Groys. „In Wirklichkeit sind sie Medienkünstler.“
Ich werde mich nicht dazu hinreißen lassen, die „Letzte Generation“ in Bausch und Bogen zu verdammen. Aber ich denke, es wäre gut, wenn sie ihre Aktionsformen noch einmal überdenken würde. Kein noch so hehres Ziel rechtfertigt das Risiko, irreversible Schäden zu verursachen, nicht an Kunstgegenständen und schon gar nicht an Mitmenschen.
Was wir nicht vergessen sollten: Mögen unsere Gesetze den Protestierenden gegenüber auch bis zum Anschlag ausgereizt werden, sie können, wie wir alle, unsere Meinung deutlich äußern und auf vielfältige Weise protestieren. Von solchen Freiheiten können Menschen in anderen Teilen der Welt nur träumen. Klimaaktivistinnen wie Vanessa Nakate aus Uganda oder Manal Bidar aus Marokko; der Blogger und Menschenrechtsaktivist Alaa Abdel Fattah, der in einem ägyptischen Gefängnis sitzt und seit sieben Monaten im Hungerstreik ist; die Frauen, die im Iran mit wehenden Haaren auf der Straße tanzen und so viele andere, die inhaftiert sind, gefoltert werden oder ins Exil gehen mussten.
Es ist deshalb großartig, dass gestern in Scharm-el-Scheich auch für Menschenrechte demonstriert wurde. Noch besser wäre es, wenn das auch passieren könnte, ohne dass die Scheinwerfer der Weltöffentlichkeit die Demonstrierenden beschützen müssen.
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Kerstin Eitner
Redakteurin
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