Liebe Leserinnen und Leser,
am 24. Februar 2022 überfiel Russland die Ukraine. Fallschirmspringer landeten in Hostomel, einem Vorort von Kiew. Ihr Auftrag: Flughafen Hostomel einnehmen, Kiew erobern, Regierung stürzen. Es kam anders. Kein Tag ist seither vergangen, an dem wir nicht Geschichten, Reportagen und Augenzeugenberichte über die und aus der Ukraine gehört, gesehen oder gelesen haben. Und über Russland und dessen Herrscher, der sich vor den Augen der fassungslosen Deutschen vom allzeit zuverlässigen Gas- und Öllieferanten in einen Diktator mit imperialen Gelüsten und eigener Geschichtsschreibung verwandelte, der die Zeit zurückdrehen will.
Unter den amtierenden Autokraten macht Putin derzeit zweifellos am meisten von sich reden; da können andere leicht in Vergessenheit geraten, aber Studien wie zum Beispiel der Transformationsindex der Bertelsmann-Stiftung oder der Democracy Index der Economist Intelligence Unit (EIU) kommen leider zu dem Schluss, dass es auf der Welt mehr autokratische als demokratische Staaten gibt. Ja, die Demokratie ist in Gefahr, das ist keine leere Floskel.
Nicht alle sind lupenreine Diktaturen, es gibt Hybridformen, doch in den meisten dieser Länder regiert ein durch Putsch, Wahlen oder auch durch „Erbfolge“ ins Amt gelangter Machthaber, der um sich eine kleine Clique aus Jasagern versammelt hat. Er ist Oberbefehlshaber des Militärs, kontrolliert Presse und Medien, verfügt über eine willfährige Justiz, manipuliert Wahlen (falls überhaupt welche stattfinden), hat Opposition und Zivilgesellschaft weitgehend kaltgestellt und lässt Gegner verhaften, einsperren oder umbringen, selbst im Ausland. Oft muss man nicht lange suchen, bis man in seinem Dunstkreis auf Repräsentanten des Klerus stößt, ob Patriarchen, evangelikale Prediger oder Imame, die ihm treu zur Seite stehen. Manchmal bestimmen die Geistlichen auch selbst die Politik, siehe Iran.
So weit, so offensichtlich. Aber was sind das nun eigentlich für Menschen, besser gesagt: Männer? Besonders intelligent oder begabt müssen Autokraten, meint der Autor Frank Dikötter, nicht unbedingt sein, dafür eitel, machtbewusst und gerissen. Um an der Macht zu bleiben, hilft es, die engsten Vertrauten allzeit spüren lassen, dass sie jederzeit in Ungnade fallen könnten oder Schlimmeres. Und die Kunst des Lügens sollte man schon beherrschen.
Man kann ihnen nicht in den Kopf schauen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Putins und Xis, die Kims und Assads, die Lukaschenkos und die Afewerkis, auch die Erdoğans und Orbáns im Grunde ziemliche Würstchen sind. Da können sie noch so viel dröhnende Rhetorik absondern, Judo machen, Raketentests bejubeln und Militärparaden abschreiten, in Wirklichkeit, denke ich, sind sie leicht zu verunsichern. Denn kaum hebt irgendwo jemand auch nur eine Augenbraue, fühlen sie sich gekränkt. Oder sie behaupten, ihr Gott sei beleidigt. Mitleid haben sie allenfalls mit sich selbst, Empathie ist ihnen wesensfremd. Auch Humor und Selbstironie sind nicht nachweisbar. Wehe, es tauchen satirische Zeichnungen, Gedichte, Lieder, Artikel oder Posts auf – sofort geht es den Verfasserinnen und Verfassern an den Kragen. Kunst und Kultur stehen prinzipiell unter Generalverdacht.
Es reicht im Grunde wenig, um die Herren aus der Fassung zu bringen: eine strahlend lächelnde Frau, die mit ihren Händen ein Herz formt. Eine Person, die sich allein mit einem weißen Blatt auf einen leeren Platz stellt. Eine zierliche ältere Dame mit einer Blume im Haar. Mädchen, die ohne Kopftuch in den Straßen tanzen. Ein Video, das den wahren Reichtum des angeblich so bescheiden lebenden Machthabers enthüllt. Oder ein Vergleich der Physiognomie des Staatschefs mit Pu dem Bären – dieser grundsympathischen, wenn auch etwas verfressenen Figur „von sehr geringem Verstand“ aus dem gleichnamigen Kinderbuch. Da hilft nur noch, die Verwendung des Begriffs „Pu der Bär“ zu verbieten. So wie Tibet, Dalai Lama, Homosexualität oder auch Krieg, der in Russland nur noch „militärische Spezialoperation“ heißen darf. Orwell lässt grüßen.
Alles in allem glaube ich, die Mächtigen verbringen einen großen Teil ihrer Zeit damit, sich zu fürchten, was sie natürlich nie zugeben würden. Wovor? Vor allem natürlich vor dem eigenen Volk. Denn die ganze Macht, der Pomp, die Propaganda, die Vorkoster, Leibwächter und Einflüsterer werden nichts mehr nützen, wenn die Massen die Geduld verlieren und ihrerseits keine Angst mehr haben.
Das ist geschehen und kann wieder geschehen. Und sei es nur, weil irgendwann ein Kind ausruft: „Der Kaiser hat ja gar nichts an!“
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Kerstin Eitner
Redakteurin
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