Liebe Leserinnen und Leser,

mit der russischen Kohle soll nun also früher als geplant Schluss sein, darauf hat sich die EU unter dem Schock der Bilder aus Butscha geeinigt. Gut so. Aber nicht genug, sagen viele und fordern den sofortigen Stopp sämtlicher Energieimporte. Moralisch fühlt sich das fraglos richtig an. Ob es den Krieg beenden würde, weiß niemand, und über die volkswirtschaftlichen Auswirkungen wird nach wie vor ebenso kontrovers debattiert wie über die Zumutbarkeit. Die Volkswirtschaft würde selbst einen harten Schnitt wahrscheinlich überstehen, wenn auch arg ramponiert, aber es gibt da noch ein paar Unwägbarkeiten.

Altbundespräsident Joachim Gauck äußerte vor ein paar Wochen in einer Talkshow, wir könnten schon mal „frieren für die Freiheit“, und auch die Wohlstandseinbußen wären wohl ein paar Jahre lang verkraftbar. Wer aber ist „wir“? Es gibt in diesem reichen Land Menschen, die sich im Winter ohnehin schon zwischen Essen und Heizen entscheiden müssen, und das nicht erst seit Russlands Überfall auf die Ukraine. Die können solche Ausführungen eines gutsituierten Ruheständlers wohl nur als bodenlose Frechheit auffassen.

Umfragen zufolge ist die Hälfte der Deutschen für ein Embargo, etwas weniger dagegen. Ich bin generell skeptisch, was „unsere“ Begeisterung für drastische Einschränkungen betrifft, die zweifellos längere Zeit dauern würden. Auch der Ökonom Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung meint, dass das Land ein Embargo nicht länger als ein paar Monate durchhalten würde, und weist auf Widersprüche hin: Schon bei vergleichsweise kleinen Einschränkungen wie Tempolimit, autofreien Sonntagen oder einen Spritpreis über 2,30 Euro fehle die Akzeptanz. (Tempolimit, sagt der Verkehrsminister, geht schon deshalb nicht, weil ja gar nicht genug Schilder vorhanden sind. Die Deutsche Umwelthilfe hat umgehend ihre tatkräftige Unterstützung angeboten).

Kann es sein, dass diejenigen, die Feuer und Flamme für ein Energieembargo sind, das andere „Wir“ nicht auf dem Zettel haben? Nämlich Rentner, Geringverdienerinnen oder Alleinerziehende, aber auch diejenigen, die zwar als Normalverdiener gelten, derzeit aber sorgenvoll auf ihre Einkaufs- und Tankquittungen schauen, weiter steigende Inflation und den Verlust ihres Arbeitsplatzes fürchten und vielleicht zunehmend das Gefühl haben, in der Hauptstadt regiere eine abgehobene Elite, und niemand schere sich um sie?

Nehmen wir mal an, worst case, es erschiene ein geschickter Rechtspopulist wie Victor Orbán in Ungarn oder eine gewiefte Rechtspopulistin wie Marine Le Pen in Frankreich auf der Bildfläche. Dann könnten „unsere gemeinsamen Werte“ sowie Frieden, Freiheit und die Selbstbestimmung der Ukraine sehr schnell nebensächlich werden. In Ungarn konnte man das Resultat bei der Wahl letzten Sonntag besichtigen, in Frankreich wundert sich gerade Präsident Emmanuel Macron über die Aufholjagd seiner Konkurrentin Marine Le Pen im Wahlkampf. Ihr Thema: le pouvoir d’achat, die Kaufkraft. Steigende Lebensmittel- und Spritpreise oder auch nur die Furcht davor spielen ihr in die Hände. Umfragen zufolge liegt sie nur noch wenige Prozentpunkte hinter Macron, der da offenbar auch einiges nicht auf dem Zettel hatte.

Würde Le Pen gewinnen, hieße es ab sofort „Frankreich first“. Eingewanderte dürften sich überall hinten anstellen, auf dem Job-, dem Wohnungsmarkt oder wo auch immer, die Beziehungen zur EU, deren Gründungsmitglied das Land ist, würden allenfalls noch auf Sparflamme köcheln, und ob Frankreich in der Nato bliebe, ist fraglich. Überhaupt würde internationale Politik wohl keine sehr große Rolle mehr spielen. Möchte sich das jemand vorstellen?

Und nun mal angenommen, die Präsidentschaftswahlen 2024 in den USA gewinnt wieder Donald Trump, was ja nicht auszuschließen ist. Klingt nach einem perfekten Sturm, finde ich. Der schöne internationale Schulterschluss wäre perdu. Nennen Sie mich eine Miesmacherin oder von mir aus eine Angsthäsin, aber: Noch am Abend des 23. Juni 2016, während in Großbritannien über den Brexit abgestimmt wurde, dachte ich, na, wird schon gutgehen. Und am 8. November desselben Jahres, als in den USA gewählt wurde, dachte ich, oha, die werden doch nicht…Sie wissen, was dann passierte. Mir jedenfalls wird schon viel wohler sein, wenn die Wahl in Frankreich gut ausgeht.  

Ach, verdammt! Wo bleibt denn das Positive? Nun ja, es gibt immerhin ein Osterpaket aus dem Wirtschaftsministerium. Drin sind ganz viele Windräder, Solarpaneele und viele andere schöne Dinge. Packen Sie sie so vorsichtig aus wie rohe Eier und denken einen kurzen Moment nicht daran, woher viele der auch für Windräder und E-Autos benötigten Metalle wie Nickel, Titan oder Aluminium kommen. Denn das könnte zu generellem Nachdenken führen, wo all die anderen guten Rohstoffe, die wichtigen Vor- und die feinen Endprodukte herkommen, die wir hier so lustig wegkonsumieren, ob dort wohl Milch und Honig fließen, Umweltgesetze eingehalten und Menschenrechte beachtet werden. Spoiler: eher nicht. Hoffen wir mal, dass in einem der nächsten Pakete eine Strategie steckt, wie „wir“ damit in Zukunft umgehen wollen. Und eine extragroße Packung Überzeugungsarbeit.

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Unterschrift

Kerstin Eitner
Redakteurin